Es war einmal vor über hundert Jahren ein Mann und eine Maus, die gemeinsam den Grundstein für ein magisches Imperium legten, das Generationen von Zuschauer:innen verzaubert und an sich gebannt hat. Walt Disney schuf neben seiner ersten und wohl berühmtesten Kreation Mickey Mouse nicht nur unzählige Charaktere und Geschichten, sondern auch eine einzigartige Welt, in die man eintauchen und die Magie von Disney erleben kann. Was ist aber diese Magie Disneys und was macht sie aus?
Zum hundertjährigen Jubiläum der Walt Disney Company im Jahr 2023 veröffentlichte diese den Film Once Upon A Studio (USA, 2023, Dan Abraham/Trent Correy). In dem neunminütigen Kurzfilm erscheinen zahlreiche Disney-Charaktere aus verschiedensten Disneyfilmen erstmals gemeinsam auf der Leinwand. Die Bilder im leeren Roy E. Disney Animation Building werden lebendig und mehr als 500 der gezeichnet und animierten Charaktere aus 100 Jahren Disneygeschichte kommen zusammen, um gemeinsam ein Gruppenfoto für das Jubiläum Disneys zu machen. Dabei versammeln sich Charaktere aus den unterschiedlichsten Filmen, sowohl Held:innen und Bösewichte, Prinzessinnen und Prinzen oder sprechende Tiere und lebendig gewordene Gegenstände, die miteinander interagieren. Es ist eine unterhaltsame und emotionale Vereinigung von über Generationen geliebten Charakteren sowie verschiedenen Animationsstilen, von handgezeichneten bis computeranimierten Charakteren, um 100 Jahre Disney zu feiern.
Diese Versammlung von Charakteren aus verschiedenen und eigenständigen Filmen, die sonst nicht zusammenkommen würden, erzeugt einen außergewöhnlichen und einmaligen magischen Moment. Indem sich die Charaktere begegnen, zeigt Disney einerseits seine Vielfalt an Geschichten und Figuren aus 100 Jahren, erzeugt aber gleichzeitig auch einen Moment der Nostalgie und Verbundenheit des Publikums mit den einzelnen Charakteren, aber auch eine Verbundenheit unter den Charakteren selbst, die über ihre eigenen Filme hinausgeht.
Diese Versammlung von Charakteren ist also ein wesentlicher Bestandteil der Disney-Magie. Sie erlaubt es Disney, eine tiefgreifende Verbindung zwischen den verschiedenen Filmen und dem Publikum zu schaffen, indem sie Nostalgie, Faszination und ein Gefühl der Zugehörigkeit erzeugt. Wie aber unterscheidet sich Disneys Konzept der Versammlung von anderen Formen der Charakterzusammenführung, wie sie etwa im Marvel Cinematic Universe (MCU) oder anderen Franchises wie Star Wars oder Harry Potter zu finden ist - und welche Rolle spielt diese Versammlung bei der Schaffung von Nostalgie, Kontinuität, einzigartigen Erlebnissen sowie einer Markenidentität? Anzumerken ist hierbei, dass zwei der drei oben genannten Franchises mittlerweile zu Disney gehören, was wiederum die Macht des Sammelns und Versammelns des Disney-Unternehmens selbst aufzeigt - und die Möglichkeit, verschiedene Franchises miteinander zu versammeln.
Die Magie von Disney beruht also nicht nur auf den einzelnen Geschichten und Filmen, sondern, wie bereits am Kurzfilm veranschaulicht, auf dem Konzept des Versammelns von Charakteren. Ich beschreibe diese Art des Versammelns von bekannten und geliebten Figuren als eine Fundgrube. Der Kurzfilm zum Jubiläum stellt so eine solche Fundgrube dar, in die man hineintaucht und Charaktere aus den unterschiedlichsten Filmen und Jahrzehnten sowie ohne jegliche Sortierung und Reihenfolge finden kann.
Ein vergleichbares Prinzip der Zusammenführung von verschiedensten Charakteren kommt in den – seit 1955 global expandierenden – Disney-Themenparks zum Tragen. Die Parks sind eine Fundgrube von Welten und Elementen aus Disneyfilmen sowie lebendigen Charakteren, die an jeder Ecke anzutreffen sind. Seien es themenbezogene Achterbahnen und Fahrgeschäfte oder Paraden, Shows und Meet-and-Greets mit Disney-Prinzessinnen und Mickey Mouse als Aushängeschild. Alle Attraktionen sind so gestaltet, dass sie Elemente aus den bekannten Filmen kombinieren, um eine bunte Mischung von Themenbereichen zu bieten und so ein vielfältiges und einzigartiges Erlebnis zu erzeugen.
Diese Art von Versammlung ermöglicht es den Besuchern, in die magische Welt von Disney einzutauchen wie in eine Fundgrube, und die Vielfalt der Geschichten und Charaktere zu erleben. Die physische Versammlung und Präsenz von Charakteren und Filmen in den Disney-Parks bewirkt zudem ein immersives Erlebnis, das erlaubt, die Charaktere hautnah zu erleben und mit ihnen zu interagieren. So werden vor allem für Kinder neue und unvergessliche Erinnerungen geschaffen, die ein nostalgisches sowie generationsübergreifendes Gemeinschaftsgefühl herstellen.
Nicht zuletzt hat mein beschriebenes Konzept der Fundgrube einen kommerziellen Hintergrund. Somit gelangen wir zu einer weiteren, sehr marktorientierten Dimension des Versammelns: Merchandising, das auch in den Parks eine wichtige und präsente Rolle einnimmt, bemächtigt sich des Versammelns als Magnet, um Publikum anzuziehen.
Die gebotene Möglichkeit, verschiedene Filmcharaktere in einem Set versammelt zu kaufen, zieht mehr Publikum an als eine alleinstehende Figur. Besonders die Disney-Prinzessinnen werden als Gruppe vermarktet und sind aus den Regalen nicht mehr wegzudenken. Diese Figuren, obwohl sie aus unterschiedlichen Filmen und Jahrzehnten stammen, werden in einem einheitlichen Look präsentiert und oft gemeinsam als Set verkauft. Solche Produkte bieten Disney-Fans die Möglichkeit, ihre Lieblingscharaktere aus unterschiedlichen Filmen in einem einzigen Artikel zu vereinen. Dies führte dazu, dass die Disney-Prinzessinnen sich zu einer eigenständigen Marke entwickelt haben, die über ihre ursprünglichen Geschichten und Filme hinausgeht. Figuren wie Schneewittchen, Cinderella und Ariel werden dekontextualisiert und als explizite Disney-Prinzessinnen vermarktet. Sie sind Teil eines umfassenden Merchandise-Programms von Disney, das Spielzeuge, Kleidung und andere Produkte vermarktet. Prinzessin ist hierbei als Marke zu verstehen. Zwar sind viele Charaktere in ihren Geschichten auch Prinzessinnen, allerdings ist dies keine Voraussetzung, um als Disney-Prinzessin zu gelten. So wird selbst die Figur Merida, die sich in ihrer Geschichte vehement gegen das Prinzessinnen-Dasein gestellt hat, als Prinzessin in einem zwar nicht für sie typischen, aber für Disney-Prinzessinnen spezifischen Kleid dargestellt. Die Marke ‚Disney-Prinzessin‘ strahlt also eine bestimmte Art Magie in Form einer einheitlichen und konstanten Unschuld der Figuren aus, die unabhängig von den individuellen Filmen ist.
Dies muss selbstverständlich auch kritisch betrachtet werden. Insbesondere, wenn es um die aggressive Vermarktung und Franchise-Bildung geht. Man kann Disney vorwerfen, genau diese Unschuld der Kindheit zu kommerzialisieren, indem Disney ein Bild einer Welt voll Magie und Wundern erschafft, das untrennbar mit Konsum und kapitalistischer Ideologie verbunden ist. Diese umfangreiche Merchandise-Strategie und die Integration von Disneys Figuren in ja nahezu jeden Aspekt des täglichen Lebens schaffen eine Art Mythos rund um den Konsum. Kinder und Familien werden so durch Disneys großflächiges Angebot in einen ständigen Kreislauf des Kaufens und Erlebens gezogen. Trotz dieser Kritik gelingt es Disney, durch die geschickte Nutzung der Versammlung von Charakteren und das Einbringen von beispielsweise Easter Eggs, die in Filmen, den Parks und im Merchandise versteckt sind, eine tiefere emotionale und nostalgische Bindung zu schaffen, die viele Fans dazu bringt, die kommerziellen Aspekte zu akzeptieren oder zumindest über sie hinwegzusehen.
Auf diesem funktionierenden und akzeptierten Fundus an Charakteren kann sich Disney mittlerweile ausruhen. So werden in den letzten Jahren kaum neue Welten oder Charaktere erschaffen, sondern vielmehr Fortsetzungen von beliebten und vor allem erfolgreichen Filmen produziert und zudem bereits bestehende Marken und Universen gekauft, um sie in die eigene Sammlung zu integrieren. Dennoch lassen sich die Figurenversammlungen anderer Marken unterscheiden von Disneys Fundgrube. Marvel-Charaktere zum Beispiel leben alle in derselben Welt und interagieren regelmäßig innerhalb dieser, sowohl innerhalb des MCU als auch in den Comics. Diese Kontinuität und kohärente Welt ermöglicht es den Charakteren, in verschiedenen Filmen und Serien nahtlos miteinander zu agieren. Das MCU bildet den Rahmen für Geschichten, die kommunizieren und zusammen genommen eine riesengroße Diegese bilden.
Disney hingegen nutzt die Vielfalt und Unterschiedlichkeit seiner Charaktere, um eine Immersion in eine andere Art von Universum zu erzeugen. Disneys Figuren entstammen keinem kohärenten Universum, sondern einer Fundgrube aus diversen Welten und Geschichten. Diese Vielfalt ermöglicht es Disney, ein breiteres Publikum anzusprechen und verschiedene Generationen miteinander zu verbinden.
Die Magie Disneys entsteht also durch die Art und Weise, wie die Versammlung der Charaktere Kontinuität, Nostalgie und Anziehungskraft über mehrere Generationen hinweg schafft. Durch die gezielte Zusammenführung von Charakteren aus verschiedenen Filmen und Jahrzehnten in Film, Parks und Merchandise erzeugt Disney ein Gefühl der Vertrautheit und Zugehörigkeit. Diese Versammlung spricht somit nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene an, die mit diesen Charakteren aufgewachsen sind und nun ihre eigene Nostalgie mit ihren Kindern teilen können.
Zudem fördert die Versammlung von Disney-Charakteren auch Disneys Markenidentität. Charaktere wie die Disney-Prinzessinnen sind nicht nur Figuren aus einzelnen Filmen, sondern auch Symbole der Marke Disney. Diese Charaktere werden über ihre ursprünglichen Geschichten hinaus bekannt und geliebt, was Disney ermöglicht, eine starke und anhaltende Verbindung zu seinem Publikum zu schaffen.
Wiedererkennungswerte – das Entdecken geliebter Charaktere in Filmen und Parks – schaffen Kontinuität und Vertrautheit. Diese nostalgischen Momente verbinden das Publikum emotional mit den Charakteren und deren Geschichten, unabhängig davon, ob sie in den ursprünglichen Filmen oder in neuen Zusammenstellungen wie im Kurzfilm Once Upon A Studio (US 2023) erscheinen.
… und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.