BEBI O-O-O-O!

California Forever, oder: Das Fort-Da-Spiel

Monika Rinck
Im Vordergrund des Bildes: Blume in einer Vase auf einem Tisch, daneben ein Bücherstapel. Im Hintergrund des Bildes ist ein Garten zu sehen
Der schöne Garten, 2024 © Monika Rinck

Versammeln, aber wo? Ich schreibe dies unter einem Vordach, bei nieselndem Regen, umstellt von Hühnern, mit Blick auf einen Garten, in dem Obstbäume stehen, auch Dahlien in kleinen hohen Gruppen. Das Geräusch, mit dem die Äpfel aufkommen. Wenn ich aufschaue, geht der Blick in die Berge. Hin und wieder wische ich die aufblitzenden Wassertropfen vom Bildschirm. Das Papier von Heften und Büchern wölbt sich. Die Katze war noch nicht da.

Hier gibt es 56 Immobilienmakler, aber von sechs Bäckereien ist nur noch eine übrig. Man erreicht sie, indem man in der Oberstadt durch eine gläserne Passage hindurchgeht, die in ein gestuftes Bistro führt, wo wertvolle Materialien in einer gewissen Verkommenheit unklar und glanzvoll miteinander verbaut sind, man tritt den Kellnern in den Arbeitsweg, und fährt dann in einem gleichfalls gläsernen Aufzug hinunter, in die Unterstadt. Ein Kipfli bitte. Oder sagt man Hörnchen? Danke. Reichtum, wurde mir gesagt, heißt hier nicht Millionen, sondern Milliarden. Eine Regenwarnung. Es gibt Geisterhäuser mit dunklen Fenstern, in denen nie ein Licht brennt, die dastehen wie gerendert und stündlich an Wert gewinnen. Das sieht nicht gut aus. Und es gibt die harte Arbeit.

Auf dem Weg zurück von einem Abendessen oberhalb der Seilbahnstation kommen wir an einer Burg vorbei, nein, es ist eine gepanzerte alpenhafte Festung. Sie wirkt, als hätte man sich entschieden, eine lächerlich große Festungsattrappe aus Pappe nun doch nochmals aus Naturstein, Gussbeton mit Holzverschalung und schweren Deko-Elementen nachzubauen. Ein durchgeknallter Kindertraum (sehr reicher Kinder), auf monumentale Weise märchenhaft. Sicher befinden sich in den integrierten Garagen mehrere kleine bis mittelgroße vollgetankte gefechtsfertige Panzer sowie eine repräsentative Auswahl von Hummern und Defendern. Es brennt kein Licht und das ganze Ensemble wirkt höchst gesichert bis hinzu eingegebunkert. Wenn ich ein Beispiel benötigte für das Gegenteil von einladend: voilà, hier ist es. Eigentlich wirkt das Gebäude, als sei es innen nicht einmal hohl, als verweigerte es die Grundvoraussetzung des Bewohnens. Es gibt viele davon, erklärt man mir. Man könne nichts dagegen tun, ich frage mich, was das bedeutet.

Manche Leute umgingen die gesetzlichen Bestimmungen, nicht höher zu bauen als das Gebäude, das zuvor auf dem Bauplatz stand, als es noch keiner war, in dem sie tief, tief, tief in die Erde hineinbauten. Tiefgarage. Tennisbunker. Schwimmbunker. Allgemeiner klimatisierter Hobbybunker, lauschiger Mehrzweckbunker, zwei bis der Stockwerke unter der Erdoberfläche. „Der Bunker ist ein ambivalenter Ort, ‚Schutz‘ und ‚Grab‘, schützender ‚Mutterleib‘ und ‚Grabmahl‘ zugleich.“1  Es handelt sich aber auch um „Materie gewordene Politik“, so dass es sinnvoll ist, nicht nur ihre Form, sondern auch die Organisation und Infrastruktur zu untersuchen, die sie ermöglicht. Der Historiker Ian Klinke spricht hier von passiv-aggressiver Architektur. Ob ich eher einen geschlossenen Raum als bedrohlich (oder zumindest beklemmend) wahrnehme oder mit einem offenen Raum Gefühle von Unsicherheit verbinde, hat sicher mit der persönlichen Disposition und der gegebenen Situation zu tun. In den Bergen ließen die Leute ihre Türen offen, was mir sehr gefiel und mich doch irritierte, und ich schloss etwas verschämt ab, wenn ich am Abend aus dem Haus ging – dabei bin ich doch für offene Türen, ungehinderte Passagen, begehbare Wege.

Plötzlich war die Wand da. „Ich stand noch dreimal auf und überzeugte mich davon, dass hier, drei Meter vor mir, wirklich etwas Unsichtbares, Glattes, Kühles war, das mich am Weitergehen hinderte. Ich dachte an eine Sinnestäuschung, aber ich wusste natürlich, dass es nichts Derartiges war. Ich hätte mich leichter mit einer kleinen Verrücktheit abgefunden als mit dem schrecklichen unsichtbaren Ding. Aber da war Luchs mit seinem blutenden Mail, und da war die Beule auf meiner Stirn, die anfing zu schmerzen.“2  Eine unüberwindbare unsichtbare Wand ist über Nacht gewachsen, in Marlen Haushofers Roman Die Wand versucht die Protagonistin, sich in ihrem neuen alpinen Areal einzurichten, das sie nicht mehr verlassen kann. Die Sorge um das Überleben ist die Sorge um die Tiere, die Katzen, den Hund, die Kuh, den Stier und die Sorge um Brennholz und Heu.

Im gesprengten Resonanzraum brechen die Sätze ab, an-akólouthon, bleiben ohne Zusammenhang. Offenbar ist auch der innere Raum kaputt. Mit dem Begriff des Anakoluths bezeichnet man eine vom Sprecher abrupt abgebrochene Äußerung, oder: einen Satz, dessen Ende dem Anfang nicht entspricht. Immer wieder beginnt der Satz von neuem, er findet keinen Zusammenhang, stochert in der Leere herum, bricht ab, wo immer die unwürdige Trennung im Gedächtnis statthat. Die innere Stimme läuft gegen die Wand und kommt mit blutiger Schnauze zurück, wie der Hund Luchs in dem Roman Die Wand. Er hat die Wand nicht gesehen und ist heftig dagegen gerannt. Marlen Haushofers Protagonistin beginnt die unsichtbare Wand mit abgebrochenen Haselzweigen zu kennzeichnen, manche davon gehen an.

„Kann man denn nur für sich selbst leben? Wer ist dieser heimliche andere, an den sich jede Rede, so innerlich sie auch sein mag, adressiert? Im Zustand des Liebeskummers ist derjenige, der von uns fortgerissen wurde, nicht derjenige, den man nachts liebte, vormittags anschaute, mit dem man jeden Tag redete; es ist eher jener andere Unbekannte, der zu unserer inneren Stimme gehört, der Empfänger unserer Gedanken ist, welche sich nun auf einmal verwaist sehen. Es ist diese Trennung in uns, diese Bruchlinie, die auf einmal aufklafft, so wie das für jeden von uns bei der Geburt der Fall war, die in uns das Gefühl aufspringen lässt, dass alles vorbei sei, dass das Leben selbst sich mit diesem Verlassensein abschließt. (…) Es gibt keine Lösung für dieses Verlassensein. Es lässt sich nicht wegzaubern.“3  

Ach, es war so schön in diesem Garten zu lesen, als würde dort das Unmögliche gelingen. Es war, als würde der Garten die Ablenkung und die Konzentration miteinander versöhnen: die geschlossene Aufmerksamkeit auf das Buch genauso wie die weite Aufmerksamkeit auf den Raum, beides lenkte einander ab, beides kam in mir wieder zusammen. Kaum hatte ich die Heimreise angetreten, begann ich noch im Zug damit „Hotels mit großem Garten in NRW“ zu googeln, yet: to no avail. Immer war der 24. August, der Samstag, das Problem, nirgends war er nicht durchgestrichen. Also blieb ich da.

Im Schatten des Kölner Domes würden sich an diesem Wochenende die versprengten und oft drogierten Reste der Besucher der Gamescom und die Fans des 1. FC Köln gegen vier Uhr morgens unter meinem Fenster versammeln und herumbrüllen. Das sah der Bebauungsplan so vor. Dann gab es noch die Leute, die morgens um 20 nach 5 fiepende Elektroroller in Betrieb nahmen. Sie lebten in einem anderen Raum als ich, aber waren doch zur gleichen Zeit wach. Außerdem: aufheulende Motoren, kraftvolle Boomboxen, mit denen Drogen-Rikschas ihre Routen beschallen, verweifeltes Heulen, dazu Schimpfen, Hupen und Pfiffe, Gesänge. Das nächtliche Gewohnheitsgebrüll hat es an sich, dass es den Raum abwehrt und gleichzeitig an sich heranreißt. Das Gebrüll akzentuiert den Raum auf zweifache Weise, so dass ich nicht leugnen kann, ein- und denselben Raum mit den Brüllern zu teilen, und es vernichtet den Raum (für mich) zur gleichen Zeit, weil mein Bewusstsein keine Ruhe, keinen Platz mehr darin findet, Schlaf schon gar nicht. Es verschwindet die Distanz – im herangerissenen und abgewehrten Raum. Was hat das zu bedeuten? Wer ist der Adressat des Gebrülls? Wen meinen diese Menschen? Ich bin wach, wach, wach. Und die Glocken, die Glocken, die morgens um sechs, dann wieder um sieben, dann nochmals um zehn, mit ihrem langandauernden Geläute darauf beharren, dass jetzt aber wirklich ein neuer Tag beginnt. Sie kommen näher. Ich kann die Türme sehen und hören. Das Geläut reißt mich heran. Hier ist der Adressat klar: Der Adressat ist die Christenheit.

Was heißt es eigentlich, Bedeutung räumlich zu denken? Ich möchte auf den Begriff der Semiosphäre zu sprechen kommen. Mit dem Begriff der Semiosphäre entwirft der russische Formalist Jurij M. Lotman einen semiotischen Raum, in dem Bedeutung entsteht, verstanden und verhandelt werden kann und jede Form der Kommunikation stattfindet. Die Semiosphäre ist sowohl Ergebnis wie Voraussetzung und leitet sich von der Biosphäre ab, das heißt, der Gesamtheit aller Räume eines Himmelskörpers, in denen Lebewesen vorkommen. Damit Kommunikation entstehen kann, braucht es den semiotischen Raum, nicht im Sinne einzelner Sprachen, sondern weitergefasst, als Bedingung dafür, dass Sprachen überhaupt existieren und funktionieren – als Übergangsformen. Sämtliche Elemente der Semiosphäre befinden sich in einem dynamischen Verhältnis. Die Semiosphäre geht über die Sprache hinaus, doch die Sprache ist dabei der organisierende Kern. „Ein und dieselben Zentren der Semiosphäre können unter verschiedenen Aspekten gleichzeitig aktiv und ‚empfangend‘ sein, ein und dieselben Räume der Semiosphäre können in einer Hinsicht dem Zentrum und in einer anderen der Peripherie angehören; Anziehung provoziert Widerstand. Anleihen provozieren Originalität. Die Semiosphäre – der Raum der Kunst – folgt in ihrer Aktivität nicht vorgezeichneten, leicht zu berechnenden Wegen. Sie sprudelt und sprüht wie die Sonne, und wie auf der Sonne wandern ihre eruptiven Zonen – Aktivität bricht bald in der Tiefe, bald an der Oberfläche aus und strahlt in vergleichsweise ruhigere Sphären ab. Durch dieses unentwegte Brodeln wird eine kolossale Menge Energie freigesetzt. Im Fall der Semiosphäre ist dies aber eine Energie der Information, des Denkens.“4

Was mir hier interessant erscheint, ist, dass solch ein Ort, der unentwegt brodelt, der sprudelt und sprüht wie die Sonne, eigentlich  unbewohnbar ist, sowohl an der Oberfläche wie in der Tiefe. Der Feuerball, um den in diesem Universum alles kreist. Meet me in the Rothko-Room. Die Vorstellung des Bedeutungsraumes als unbetretbarer, einerseits lebensnotwendiger, aber gleichermaßen lebensfeindlicher Raum, dem man nicht zu nahekommen darf. Die räumliche Konstruktion der Geographie und ihrer seltsamen Belebung. Und dann noch das, was man seit dem späten 19. Jahrhundert Geopolitik zu nennen pflegt: Konkurrenz um Lebensräume. Die Wege führen mitten durch das Bild.

Wie aber habe ich mir ein System vorzustellen? Ist ein System auch ein Raum? Ja und nein. Aber was wäre ein System, wenn es keinen Raum, oder nicht einmal einen wie auch immer gearteten Einfluss auf Räume hätte. In einem späteren, etwas fahrigeren Buch mit dem sprechenden Titel „Kultur und Explosion“ schreibt Lotman: „Jedes dynamische System ist eingebunden in einen Raum, in dem sich andere, ebenso dynamische Systeme sowie Fragmente zerstörter Strukturen, eine Art Kometen dieses Raums, befinden.“5  Angesicht der Fragmente zerstörter Strukturen und der Kometen dieses Raumes steigen unwillkürlich Bilder aus dem Krieg der Sterne in mir auf. Hier können wir uns beim besten Willen nicht treffen.

„Die erste Metapher der Psyche ist räumlich. Die beiden Ereignisse, die das menschliche Leben leiten, Geburt und Tod, bleiben undenkbar. Das Leben rollt ab, in einem Territorium, das zwischen deisen beiden Ereignissen beginnt und endet. Der Raum ist unsere erste Metapher.“6  Der psychische Raum kann schier endlos sein, ein Raum, der von den Verlusten zeugt, den Objekten, die darin nicht mehr länger denkbar sind, wie der Psychoanalytiker Bion immer wieder in vielen seiner Arbeiten gezeigt hat. Der katastrophische Raum, in dem Beta-Elemente flottieren, mit denen das Denken nicht umgehen kann. Das muss nicht passieren. Übergänge improvisieren. Übergänge, der Improvisation andienen. Doch auch dafür Räume benötigen.

Siegfried Kracauer veröffentlicht im Herbst 1926 in der Frankfurter Zeitung einen kleinen Feuilleton-Text zu den „Stehbars im Süden“, der seinen Ausgang in Nizza nimmt und folgendermaßen endet: 

„Als winzige Häfen, aus denen man abfahren kann, sind die Stehbars in das Festland der südlichen Städte vorgeschoben. Die Elemente gesicherten Daseins werden in ihnen ohne Rücksicht auf ihren Rang verstaut, dem auflockernden Widerschein in den Spiegeln halten die Palastgefüge nicht stand. So verliert der aus dem Hafen Scheidende den Sinn für die Maße des Lebens, das hinter ihm liegt. Es zerfällt ihm in lauter einzelne Teile, aus denen er die Bruchstücke eines anderen Lebens improvisieren mag. Der Wert der Städte bestimmt sich nach der Zahl der Orte, die in ihnen der Improvisation eingeräumt sind.“7  

Wie schön das wäre. Das Wegtragen der Festlegung, das Seinlassen und Sich-Zeigen.

What was it like? Auf diese selbstgestellte Eröffnungsfrage antwortet die Dichterin Donna Stonecipher in ihrem Buch Model City mit einem langen Prosagedicht in vielen knappen Absätzen. What was it like?

It was like slowly becoming aware one winter that there are new buildings going up all over your city, and then realizing that every single one of them is a hotel.

((Es war, als würde man sich eines Winters langsam bewusst, dass überall in der Stadt neue Gebäude entstehen, um dann festzustellen, dass jedes einzelne davon ein Hotel ist.))

It was like thinking about all those empty rooms at night, all those empty rooms being built to hold an absence, as you lie in your bed at night, unable to sleep.

((Es war, wie ein Nachdenken über all diese leeren nächtlichen Räume, all diese leeren Räume, erbaut um eine Abwesenheit zu beherbergen, während du nachts schlaflos im Bett liegst.)) 
                            * 
It was like the feeling of falling through the ‘o’ in ‘hotel’ as you almost fall asleep in your own bed, the bed that you own, caught at the last minute by ownership, the ownership of your wide-awake self.

((Es war wie das Gefühl durch das O von Hotel zu fallen, als du in deinem Bett, das dein eigen ist, fast in tiefen Schlaf fällst, in der letzten Minute aufgehalten durch Eigentum, das Eigentum deines hellwachen Selbst.))
*
It was like giving in to your ownership of yourself and going to the window, looking out at all the softly illuminated versions of the word ‘hotel’ announcing their shifting absences all over the city.

((Es war, als würdest du dich deinem Selbsteigentum ergeben und zum Fenster gehen, um hinauszuschauen auf all die sanft erleuchteten Versionen des Wortes „Hotel“, die der ganzen Stadt ihre wechselnden Absencen verkünden.))8

Absencen ist mit großer Sicherheit hier nicht die richtige Übersetzung. Ich lasse sie dennoch stehen. Das Buch „Model City“ von Donna Stonecipher kann ich sehr empfehlen. Es ist vor fast zehn Jahren bei Shearsman Books in Bristol erschienen. Bereits einmal hatte es mir sehr gefehlt, als ich vor sieben Jahren in Istanbul über den Stadtumbau von Istanbul nachdachte. Damals bat ich Donna Stonecipher mir ihr Buch zuzuschicken, als PDF, ich musste es unbedingt sofort wieder lesen. Die Versammlung der Touristen, die die Einheimischen, also Leute mit Wahlrecht, aus den zentralen Vierteln vertreiben. Wo die Stadt ganz besonders war, wurden gewachsene Strukturen vernichtet und Großprojekte eingesetzt. Stadtkonflikte! Niedergewalzte Stadtkonflikte. Ausverkaufte Stadt. Neue Enge. Durch die teure Stadt spazieren Touristen, die selbstbewusst und desorientiert wirken. Noch die kleinsten Kinder verkörpern den Reichtum ihrer Familien.

„Gut erschlossener Stadtraum ist zum Investitionsstandort für jenes Kapital geworden, das durch fehlende Besteuerung von Krise zu Krise wächst und sich in Form jenes Eigentums an urbanem Raum manifestiert, das nicht für dessen Nutzung gedacht ist, sondern als gebaute Form gestapelter Aktien und Sparbücher. Kurz gesagt, findet dabei eine Umverteilung von öffentlich zu privat und von unten nach oben statt. Umfassender betrachtet, werden durch diese Privatisierungsprozesse die Bereiche Städtebau, Wohnbau, Schulbau, öffentlicher Raum der Bestimmung durch institutionelle Repräsentation wie auf der zivilgesellschaftlichen Teilhabe immer stärker entzogen. 
Es handelt sich hier also um eine massive Demokratiekrise. Als eine solche wirkt sich die neoliberale Kapitalakkumulation, die immer auch Politik ist, aus. Mit bedenklicher Unbeirrbarkeit verläuft, zusätzlich zur Durchsetzung neoliberaler Ökonomie und Politik, insbesondere in Europa die Vertiefung ebendieser Krise der Demokratie.“9  

Ein anderes Beispiel: Nachdem San Francisco nicht zuletzt durch den ungehinderten Einfluss neoliberaler Tech-Firmen auf den Stadtraum und durch entfesselte Mieten, Obdachlosigkeit und die offene Drogenszene zunehmend unbewohnbar geworden ist (und trotz etlicher entsetzlicher Unfälle nach wie vor als Testgebiet für selbstfahrende Autos dient), gewinnt die Idee einer komplett privaten Stadt an Deutlichkeit: California Forever. Ich weiß nicht, ob das real oder schlicht phantasmatisches Marketing – eine gewisse Wirkung auf die Realität bleibt in jedem Fall nicht aus. Was soll es werden? Eine neue Stadt für 400.000 Menschen, das East-Solano-Projekt, so geplant von einer Gruppe von Tech-Milliardären rund um Jan Sramek, Reid Hoffman, Laurene Jobs. Das Projekt wird folgendermaßen beworben: "The East Solano Plan brings 15,000 local jobs paying over $88,000/year, 20,000 new homes affordable for working families, $200 million commitment to invest in revitalizing downtowns in existing Solano cities, and $500 million in community benefits for down payment assistance, scholarships, and small business grants for Solano residents."10  

Die Werbung geht weiter: „California Forever has signed an agreement with Crystal Lagoons to make Solano County the home of only second such lagoon in California, after Disney’s new community in Cotino, in Southern California. Crystal Lagoons are beautiful, beach-like crystalline lagoons with sand and turquoise water, which use 25 times less water than an average 18-hole golf course. The Solano Lagoon will be a Public Access Lagoons project, meaning that it will be open to everyone from Solano County. Learn more here.“11

Mit einer an Zynismus kaum zu überbietenden und nahezu paranoiden Pragmatik stellen Crystal Lagoons ® PAL ® Projects das eigene Lagunen-Projekt einem nicht näher bestimmten Public Beach gegenüber. Weißer Sand, türkisfarbenes Wasser, Catering, der Verleih von Wassersport-Supplies, von Strandkörben und Cabanas sei eher selten auf Public Beaches anzutreffen, bei Crystal Lagoons ® PAL ® Projects aber garantiert. Genauso stehe es um: Toiletten, Parkplätze, Sicherheitsdienste und: das Fehlen von Algen, Haien, Stachelrochen und Marine Life im Allgemeinen, all das trägt sich als Pluspunkt auf der Seite von Crystal Lagoons ® PAL ® Projects ein. 
 „Endless Ways to Monetize! Public Access Lagoons® developments can transform any location into a dynamic entertainment hub. With the allure of year-round beach life and activities, PAL® projects are a catalyzer for a wide array of revenue streams. The low investment and maintenance costs make PAL® a business model of unprecedented profitability.“12

Ist das wirklich nur Kapitalismus? Was steckt dahinter, dass ich zunächst natürlich gegebenen Raum vernichte, um ihn dann künstlich wieder zu erschaffen und gewinnbringend weiterzuverkaufen? Man kennt das von der Infrastruktur her, etwa in England oder den USA: Die öffentlichen Schulen verkommen lassen, um dann für diejenigen Kreise, die es sich leisten können, Privatschulen und private Universitäten anzubieten. Der kapitalistische Nachbau des Gegebenen hat etwas von einer diabolischen Kopie. Ist hier bereits der Todestrieb an der Arbeit?

„Aber es nützt nichts, eine bessere Welt konstruieren zu wollen, indem alle ‚Verschmutzungen‘ verbannt werden. Und so, wie sich die Psyche von Schatten ernährt, die wir in verwüstete Territorien drängen, in die wir uns nur in unseren Träumen wagen, so können nur dann, wenn wir verstehen, was in uns den Schmutz, die Reste und das Unlebbare produziert, diese uns vielleicht eines Tages im Kreislauf der Regeneration von Nutzen sein. Unsere Schatten, unser Abfall haben, wie Geister und Phantome, eine lästige Art, zu insistieren, um wiederzukehren, immer dann, wenn man glaubt, sie weit von uns entfernt verbannen zu können. Kein verschlossener Schrank, keine abgesicherte Höhle genügt hier.“13  

"What was it like?", fragt Donna Stonecipher. „It was like wandering through an ersatz medieval town and wonderung how many centuries it would take to turn it into a real town, or even if it ever could, since ist origins were ersatz.“14  ((Es war als spazierte man durch eine mittelalterliche Ersatz-Stadt, während man darüber nachdenkt, wie viel Jahrhunderte nötig sein werden, um sie in eine echte Stadt zu verwandeltn, und ob das überhaupt möglich wäre, da ihr Ursprung Ersatz ist.))

Was hat es auf sich, mit diesen Räumen des Verschwindens? Die verschwundene Stadt, an deren Stelle die Ersatzstadt errichtet wurde? „Jeder von uns bewohnte Ort hat eine Kapazität, zum Resonanzraum zu werden, nach Maßgabe der affektiven Spuren und Abdrücke, die dort in uns entstanden sind, ein Resonanzraum, der, im urbanen Raum, die intime Kartographie unserer jeweiligen Anbindungen wie eine Spur aufnehmen wird.“15  

„Der kleine Ernst spielt ausschließlich Fortsein.“ In seiner Abhandlung „Jenseits des Lustprinzips“ schildert Freud, wie es einem kleinen Kind gelingt mithilfe eines Spiels zu lernen, mit Verlassensängsten umzugehen. Das Spiel heißt das: „Fort-Da-Spiel“, immer wieder wird dabei eine Garnspule weggeworfen und am Garn wieder zurückgeholt, Verschwinden und Wiederauftauchen wechseln sich so unzählige Male ab. 

„Die symbolische Bannung des Fort verlangt aber ihren Preis. Das Medium, durch das etwas weggeschickt wird, auf dass etwas da sein kann, senkt sich in das Subjekt selbst hinein. Verschwinden, Auslöschung und Tod tauchen auf der Seite des Subjekts wieder auf. So lese ich ein viertes, von Freud in die Fußnote versetztes Spiel: Sie besagt, dass das Kind, während seines langen Alleinseins ein ‚Mittel‘ gefunden hatte, ‚sich selbst zum Verschwinden zu bringen‘, indem es sich vor eiem Spiegel zu Boden duckt. Die Fußnote bezeugt die Kehrseite, den ‚Rückstand‘ des scheinbar triumphalen symbolischen Wegschickens der Mutter und der Dinge, das nicht zu haben ist ohne die Vorstellung des eigenen Verschwindens: ‚Bebi o-o-o-o!‘“16

Es war der Traum von einem Garten, von Sorge und von Wertschätzung und von einer guten Versammlung. Das bricht hier einfach ab. Und kommt später auf unvergleichliche Weise in einem ganz anderen Raum wieder zurück. Aber nicht als Ersatz, denn den Ersatz, den gibt es nicht. Doch die Zerstörung, die gibt es schon. To be continued.

  • 1

    Ian Klinke: Bunkerrepublik Deutschland. Geo- und Biopolitik in der Architektur des Atomkriegs, Bielefeld 2019, S. 8.

  • 2

    Marlen Haushofer: Die Wand, Berlin 2023, S. 25.

  • 3

    Anne Dufourmantelle: Im Fall der Liebe. Psychopathologie des Liebeslebens, aus dem Französischen von Rike Felka, Berlin 2021, S. 36.

  • 4

    Jurij M. Lotman: Die Innenwelt des Denkens, ausdem Russischen von Gabriele Leupold und Olga Radetzkaja, Berlin 2010, S. 202.

  • 5

    Jurij M. Lotman: Kultur und Explosion, aus dem Russischen von Dorothea Trottenberg, Berlin 2010, S. 87.

  • 6

    Anne Dufourmantelle: Im Fall der Liebe. Psychopathologie des Liebeslebens, aus dem Französischen von Rike Felka, Berlin 2021, S. 91.

  • 7

    Siegfried Kracauer, 'Stehbars im Süden', in: ders.: Straßen in Berlin und anderswo, Frankfurt/Main 2009, S. 71.

  • 8

    Donna Stonecipher: Model City (ÜS im Entwurfsstadium MR), Bristol 2015, S. 15.

  • 9

    Gabu Heindl: Stadtkonflikte. Radikale Demokratie in Architektur und Stadtplanung, Wien/Berlin 2022, S. 13.

  • 10

    https://eastsolanoplan.com/ - zuletzt abgerufen Ende August 2024

  • 11

    https://eastsolanoplan.com/ - zuletzt abgerufen Ende August 2024

  • 12

    https://www.crystal-lagoons.com/ (zuletzt abgerufen Ende August 2024).

  • 13

    Anne Dufourmantelle: Im Fall der Liebe. Psychopathologie des Liebeslebens, aus dem Französischen von Rike Felka, Berlin 2021, S. 79.

  • 14

    Donna Stonecipher: Model City (ÜS im Entwurfsstadium MR), Bristol 2015, S. 26.

  • 15

    Anne Dufourmantelle: Im Fall der Liebe. Psychopathologie des Liebeslebens, aus dem Französischen von Rike Felka, Berlin 2021, S. 92.

  • 16

    Elfriede Löchel: "Wie Freud den stummen Todestrieb zur Sprache bringt – und was daraus wurde. ‚Jenseits des Lustprinzips‘ wiedergelesen", in: Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, Nr 76 (2022), S. 486.