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"Alle Spielsteine sind gleich, keiner ist mehr wert als der andere und sie sind selbst nur so viel wert wie die leeren Regionen, die sie umgeben."
Als Medium, das von Anfang an Menschen, Tiere, Perspektiven und Dinge ›assemblierte‹, auf wie vor der Leinwand, ist Film eine paradigmatische Kultur- wie Sozialtechnik des Versammelns. Was können wir versammlungstechnisch, -ästhetisch und -praktisch immer noch von Film und Kino lernen? Wo versammelt Film was, in welcher Form, mit welcher Wirkung? Wie wichtig ist uns das Versammeln noch, sei es physisch, digital oder in hybriden Formen?
Mit Fragen wie diesen beschäftigten sich die Studierenden der Filmwissenschaft und der Mediendramaturgie der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz. Im Zuge des kritischen Schreiblabors Film als Kunst des Versammelns. Schreiben über Film und darüber hinaus, das von Matthias Wittmann geleitet und vom Gutenberg Lehrkolleg (GLK) gefördert wurde, entwickelten die Teilnehmer*innen kritische Essays, die sich mit der Versammlungsperformanz von Film, Kino und anderen audiovisuellen Medientechniken beschäftigten.
Entscheidend ist, dass Film Versammlungen nicht nur abbildet, sondern auch herstellt - nicht zuletzt, indem die filmischen Techniken in unsere Wahrnehmung eingreifen. Die filmisch versammelten Räume, Blicke, Lebewesen, Formen und Dinge schichten, verflechten, durchkreuzen sich in unserer Wahrnehmung. Versammelt werden aber auch wir, in den Kinos, vor den Leinwänden, oder anderswo, vor Displays, größeren und kleineren Screens, bei Public Viewing Events u.v.m. Postfilmische Medien erweitern, zerstreuen, vernetzen diese Versammlungen, garantieren Teilhabe, schaffen aber auch Exklusion.
Wie den Film, so verstehen wir auch die Essayistik als Technik, das Thema 'Versammeln' performativ werden zu lassen, d.h. als Struktur des Textes erfahrbar zu machen. Dementsprechend waren drei ineinandergreifende Ebenen strukturgebend für das Schreiblabor.
Die Beiträge der Studierenden eröffnen ein Kaleidoskop an Möglichkeiten, das Thema 'Versammeln' durch die Linse des Films und seiner Verfahrensweisen zu perspektivieren, wobei auch postfilmische Wahrnehmungsweisen eine große Rolle spielen. In diesem Kaleidoskop aus Perspektiven treffen Detailaufnahmen auf Panoramaufnahmen, medienspezifische Überlegungen auf sozialpolitische Fragestellungen, steile Thesen auf persönliche Erfahrungswerte. Der folgende Collagefilm von Clara Schmid vermittelt ein vielschichtiges wie vielstimmiges Bild der Resonanzräume, Interferenzen und Akzente, die im Zuge der kollaborativen Schreibexperimente entstanden sind: Audiovisuelle Dokumente aus dem Labor - Körper, Gesichter, Materialien, Schreibgesten, Stimmen und Schriften - werden ineinander geblendet und ergeben ein schillerndes Oszillieren zwischen Berührung und Differenz, Versammlung und Zerstreuung.
Am Anfang des Schreiblabors standen drei bildgebende Leitmotive: (I) die Struktur des chinesischen Brettspiels GO, (II) eine Sequenz aus Alfred Hitchcocks The Birds (USA 1963) und (III) die surrealistische Schreibtechnik des Cadavre exquis (Köstlicher Leichnam). Webdesignerin Laura Oldenbourg (von einskommanull) hat zwei dieser Motive - GO und Hitchcocks Versammlung der 'Birrrrrrds' - gewählt, um dem Thema eine entsprechend ansprechende (Web-)Gestalt zu geben.
I GO
Auf dem Spielbrett befinden sich 19 horizontale und 19 vertikale Linien, die zusammen genommen ein Raster von 361 Schnittpunkten ergeben. Gespielt wird mit linsenförmigen, schwarzen und weißen Spielsteinen, die von zwei Spieler*innen abwechselnd auf die Schnittpunkte der Spielfeldlinien gesetzt. Es gilt, Steine so zu versammeln, dass sie Territorien abgrenzen und gegnerische Steine eingrenzen, ›gefangen nehmen‹. Soweit, so grundlegend.
Mehr zu erzählen über Nuancen und Aspekte des Versammelns hat GO allerdings dann, wenn die Differenz zu Schach in den Blick rückt. Anders als Schachfiguren haben GO-Steine keine vorgegebene, festgelegte Funktion. Ihre Bedeutung ändert sich je nach Position, Konstellation und Einbettung in ein eine Konfiguration. Es ist also ihr Zusammenspiel und ihre Gestalt, die den Steinen mehr oder weniger Gewicht verleiht. GO führt uns einen Grundsatz der Gestaltpsychologie als Regel des Spiels vor Augen: Das Ganze ist mehr als die Summe der Teile. Mit jedem hinzu- oder wegkommenden Baustein verändert sich die Konfiguration des Ganzen, wobei die Elemente je nach Relation unterschiedliche Ladungen aufweisen und sich neue Bedeutungen zuweisen.
Spätestens hier wird deutlich, dass GO einen Aspekt des Versammelns ins Spiel bringt, der auch im Film zum Tragen kommt - nämlich dann, wenn die Verfahrensweise der Montage gestaltend eingreift, unsere Wahrnehmung in Perspektiven aufsplittert und daraus die Welt neu zusammensetzt. Im Wechselspiel von Bild und Unterbrechung, Schichtung und Schnitt werden neue Zusammenhänge sichtbar und hörbar. Film versammelt Einstellungen und Perspektiven, die sich – anders als an der assembly line - nicht unbedingt ergänzen müssen. Sie können sich auch durchkreuzen, in die Quere kommen – so wie dies Charlie Chaplin in Modern Times (USA 1936) am Fließband gelingt:
Filmisch betrachtet ergibt Versammeln alles andere als eine stabile Form und eine abschließbare Gestalt. Das Ganze ist mehr als die Summe der Teile – und schon gar nicht ist es das Ganze im Sinne eines exklusiven Wir (wie es rechtspopulistische, identitäre Bewegungen notorisch behaupten).
II Birds
Von den oben genannten Aspekten der Filmmontage qua Versammlungstechnik hat vor allem eine Filmszene viel zu erzählen, die unser Schreiblabor wie ein Mini-Traktat über das Versammeln eröffnete - und den Studierenden als Impuls für die erste Schreibübung diente, einer Übung in free writing (siehe Materialien).
Gegeben war folgende Szene: Melanie Daniels (Tippi Hedren) nimmt neben einer Schule auf einer Parkbank Platz, zündet sich eine Zigarette an und wartet auf das Ende des Unterrichts. Hinter ihr, im Bildhintergrund, ist ein Spielplatz mit Klettergerüst zu sehen; zu hören ist der Gesang der Schulkinder. Dann setzt sich die erste Krähe auf das Gerüst im Hintergrund.
Die folgende Montagesquenz zeigt Melanie und das Klettergerüst abwechselnd, in Nahaufnahmen und Halbtotalen. Wie eine Note auf einer Notenlinie nimmt die erste Krähe auf einer horizontalen Stange des Gerüsts Platz. Dann eine zweite Krähe, vier, fünf Krähen, später zehn Krähen. Immer noch hören wir auschließlich den Gesang der Kinder aus dem Unterricht nebenan. Schließlich wacht Melanie aus ihrer Gedankenversunkenheit auf, wird auf eine einzelne anfliegende Krähe aufmerksam, die ihren und unseren Blick lenkt und schließlich auf dem Gerüst landet. Was nicht nur Melanie, sondern auch uns entgangen ist: Im Wechselspiel der Nahaufnahmen von Melanies Gesicht und dem Klettergerüst wurde das Vergehen von Zeit verschwiegen: Auf Gerüst und Dach sitzen nicht mehr nur zehn Krähen, sondern unzählige Vögel. Alles ist schwarz von Gefieder. Wie Noten zu einem anschwellenden Gesang haben sich die Vögel zu einem unkontrollierbaren Schwarm zusammengesetzt.
In der Art einer Nusschale verdichteten sich in dieser Filmszene für uns zahlreiche Aspekte und Fragen, die im Laufe des Schreiblabors wie ein Refrain wiederkehren sollten:
- Versammlungen sind nicht selbstverständlich, sie benötigen Orte, Medien, Infrastrukturen - wie die Krähen auf dem Klettergerüst (und auf dem Dach des Schulgebäudes) oder die Schulkinder in ihren Klassenzimmern unter diesem Dach.
- Versammeln bedeutet nicht nur Nähe, sondern auch Abstand, Lücken, Leerstellen - wie Noten auf Notenlinien, die Spielsteine von GO oder Hitchcocks Vögel auf dem Spielgerüst.
- Verschiedene Versammlungen können sich gegenseitig in die Quere kommen, stören, Unruhe stiften und neue Ordnungen, (Counter-)Regime bilden. Während sich Melanie in The Birds 'sammelt', in sich versunken ist, versammeln sich die Krähen im Hintergrund, als wären sie Transfigurationen von Melanies Subjektivität. Gleichzeitig bringen die Vögel einen nicht-menschlichen Überschuss mit und widersetzen sich genau dieser Interpretation.
- Wann geht Versammlung in ‚Krawall‘ und Krächzen über - aus welcher Perspektive ist es denn überhaupt ‚Krawall‘?
- Welche Augen nehmen wo Versammlungen war? Wir meinen mehr zu sehen als Melanie, glauben, die visuelle Kontrolle über den Raum zu haben - und merken schließlich: Auch wir waren ganz schön versunken, uns ist viel entgangen. Die Filmschnitte haben Zeit kassiert und in dieser (Zwischen-)Zeit haben sich mehr Krähen angesammelt, als wir vermutet haben. Wo sind eigentlich die Spatzen geblieben?
- Mit jedem hinzukommenden oder wegfliegenden Vogel verändert sich das Ganze als Wahrnehmungsfeld, wobei die Teile in diesen Konfigurationen je nach Relation unterschiedliche Bedeutungsladungen mitbringen. Hitchcock führt uns eine Gesetzmäßigkeit des Gestaltsehens vor Augen und führt diese mit der Erfahrungslogik der Montage eng. Das Ganze ist mehr als die Summe der Teile, ein Schwarm ist mehr als die Aneinanderreihung von Vögeln auf einem Gerüst, mehr als ein atomistisches 1+1+1+1+1. Das Ganze ist eine Melodie, eine offene Assemblage (Deleuze/Guattari), ein Gewebe aus Erinnerungen, Wahrnehmungen und Antizipationen.
- Was uns Hitchcock vor Auge führt, ist ein Netzwerk versammelter Perspektiven - eine Allianz, vielleicht auch ein Disput, zwischen Kameraauge, Vogelauge, Menschenauge.
III Der Köstliche Leichnam
Die Kunst der Essaysitik besteht also darin, für den behandelten Gegenstand eine gegenstandsadäquate Schreibtechnik zu finden. Dementsprechend war Versammeln in unserem kritischen Schreiblabor nicht nur Gegenstand des Schreibens, sondern auch dessen Grundlage und Rahmenbedingung. Als Dispositiv betrachtet könnte das Versammeln mit der Ordnung oder Unordnung auf unseren Schreibtischen und Desktops beginnen, wie uns Johannes Binotto – inspiriert von Georges Perec - in seinem Videoessay Desktop Documentary (2023) vor Augen führt.
Ich verbringe täglich mehrere Stunden an meinem Schreibtisch. Manchmal wünschte ich mir, er wäre so leer wie nur möglich. Meistens ist es mir jedoch lieber, dass er fast maßlos überladen ist; […] Bereits seit mehreren Jahren beabsichtige ich, eine Geschichte einiger der Gegenstände zu schreiben, die auf meinem Schreibtisch liegen […].
Nicht nur „unser Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken“, wie das Friedrich Nietzsche, an Sehschwäche erkrankt, 1882 in einem Brief an seinen Sekretär Heinrich Köselitz kurz nach dem Eintreffen einer Schreibkugel mitteilte. Auch die versammelten Ordnungen und Unordnungen auf unseren Schreibtischen arbeiten mit an unseren Gedanken.
Auf der Suche nach Schreibtechniken und -experimenten, die dem Thema Versammeln ganz besonders angemessen sind, stießen wir auf jenes surrealistischen Schreibspiel, das im Oktober 1927 in der Surrealistenzeitschrift La Révolution surréaliste vorgestellt und von André Breton folgendermaßen definiert wurde:
CADAVRE EXQUIS – Spiel mit gefaltetem Papier, in dem es darum geht, einen Satz oder eine Zeichnung durch mehrere Personen konstruieren zu lassen, ohne dass ein Mitspieler von der jeweils vorhergehenden Mitarbeit Kenntnis erlangen kann. Das klassisch gewordene Beispiel, das dem Spiel seinen Namen gegeben hat, bildet den ersten Teil eines auf diese Weise gewonnenen Satzes: Le cadavre-exquis-boira-le-vin-nouveau (frz. = „Der köstliche-Leichnam-wird-den-neuen-Wein-trinken“).
Der cadavre exquis [köstliche Leichnam] begleitete uns in vielen Varianten – so etwa auch in Gestalt eines Textbaums, den wir mit einer in Zürich entwickelten Literatur-App CADARBRE [von franz. cadavre (Leichnam) + arbre (Baum)] erstellten (siehe Materialien).
Im Fall des Köstlichen Leichnams handelt es sich um ein Schreibspiel, das (a) den Zufall aufwertet und (b) einer Vielstimmigkeit und kollektiven Autorschaft Raum gibt, die - genau genommen - jeder Textentstehung (und nicht nur den KI-generierten Texten) zugrunde liegt. Der köstliche Leichnam der Surrealist*innen hilft immer noch ganz ausgezeichnet dabei, individuelle Autorschaft durchzustreichen und an seine Stelle das Kollektiv zu setzen. Hierbei geht es nicht um die Umsetzung eines Plans (Entwurfs) in Form von Arbeitsschritten – wie etwa an der assembly line. Ganz im Gegenteil: Der Köstliche Leichnam verbindet das Unverbundene. Er ist Flickwerk, Sampling, Jump-Cut. So wie Frankenstein’s Monster aus Teilen unterscheidlicher Provenienz zusammengenäht wurde, so waren auch die gemeinsamen Texte, die bei den Schreibspielen entstanden, Versammlungen aus disparaten und heterogenen Textbausteinen.
Fast so „schön, wie das zufällige Zusammentreffen einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch“ – ließe sich mit jenem berühmten Satz des Dichters Lautréamont schreiben, der nicht nur zum Schlüsselsatz der Surrealist*innen wurde und eine Fotografie von Man Ray aus dem Jahr 1933 inspirierte, sondern in Michel Foucaults Die Ordnung der Dinge (1966) paraphrasiert wird: „Darin haben sie alle ihren gemeinsamen Platz wie der Regenschirm und die Nähmaschine auf dem Operationstisch.“ (Michel Foucault, Die Ordnug der Dinge, Frankfurt/Main 1974, S. 18) Eine vergleichbare Assemblage – als Gefüge aus Unpassendem, das herkömmliche Kategorien und Klassen herausfordert - hat Foucault in Jorge Luis Borges berühmter ‚alter chinesischer Enzyklopädie‘ gefunden, die vorgibt, alle Tiere der Welt in ein allumfassendes Ordnungsschema zu fassen.
Mit Borges formuliert Foucault eine unmögliche Versammlung: „Was unmöglich ist, ist nicht die Nachbarschaft der Dinge, sondern der Platz selbst, an dem sie nebeneinandertreten könnten (Foucault 1974: 19). Borges' chinesische Enzyklopädie macht Tieraspekte sichtbar, die zuvor - in herkömmlichen Ordnungen und Klassifizierungen - unsichtbar waren. Es handelt sich um eine Gegen-Versammlung, eine Gegen-Ordnung, die konventionelle Ordnungen des Versammelns stört und einen kategoriell unmöglichen Raum besetzt, der dann doch auch möglich ist - nicht nur in Foucaults Buch, sondern auch hier auf dieser Webseite.
Mitwirkende:
Dozent:
Matthias Wittmann
Studentische Mitarbeiterin:
Clara Schmid
Redaktion Webseite:
Clara Schmid und Matthias Wittmann
Gestaltung Webseite:
Laura Oldenbourg (Berlin)
Gastvortragende:
Monika Rinck (Köln)
Kerstin Rüther (Mainz)
Volker Pantenburg (Zürich)
Studierende:
Beikirch Lisa Theresa
Dörr Fiona Carolin
Frei Marie Lotta Helene
Hartmann Matthias
Janßen Oliver
Jesse Tim
Kapfenberger Ben William
Klausen Maximilian Roland
Kühn Tim
Kuhnert Janis Noah
Medak Niklas Leopn Peter
Mockel Fabian Michael
Prinz Viola Maria
Riemer Jonathan
Rodrigues Schmidt Milena
Rörig Niklas
Schafar Eliza Tabea
Schiepan Milena
Schimpf Lea
Schmid Clara
Severin Théo Noel
Teschner Maximilian
Titze Philipp
Ullrich Oskar
Waßmund Tobias
Weller Maurice Sascha
Wendt Ansgar
Winkel Simon
Material
I Cadarbre
Bei der von LitUp! (Zürich) entwickelten Literatur-App CADARBRE [von franz. cadavre (Leichnam) + arbre (Baum)] handelt es sich um die digitale Fortsetzung des surrealistischen Schreib- und Zeichenspiels Cadavre Exquis. Im Unterschied zu dem klassischen Schreibspiel der Surrealist*innen generiert das von Samuel Eberenz, Stefan Scheidegger und Benjamin Kehl im Rahmen des Zürcher Literatursalons entwickelte, Browser-basierte Programm CADARBRE allerdings keinen linearen Text, sondern einen sich verzweigenden Textbaum. Die Entwickler beschreiben das Prinzip wie folgt: „Dabei werden den Schreibenden vom vorhergehenden Text jeweils nur die letzten Worte oder Sätze angezeigt, so dass sie angehalten sind, assoziativ und spontan auf den angezeigten Text zu reagieren. Im Gegensatz zum papierbasierten Original erfolgt die Textgenese jedoch nicht linear sondern in einer zufälligen, sich verzweigenden Abfolge. So entsteht nicht nur ein Textstrang sondern ein ganzer, sich verzweigtender Textbaum: Immer wenn eine Eingabe gespeichert wird, wird einer der bisher gespeicherten Sätze angezeigt. Die Nutzerin schreibt dann die Fortsetzung des angezeigten Satzes. Wird ein Satz mehr als einmal angezeigt, erhält ein Satz mehr als eine Fortsetzung und der Text beginnt sich an dieser Stelle zu verzweigen.“
Der CADARBRE begleitete uns das Seminar hindurch und war uns behilflich, das Thema ›Versammeln‹ auch in der Textform zu reflektieren. Auf Basis von verbindlichen Regeln stellten wir einen vielstimmigen Textbaum her, der sich von Email zu Email, wie ein Staffellauf fortschrieb und verzweigte. Regeln und Textbaum sind hier zu lesen: Regeln_Textbaum & Dokumentation_Textbaum
II Collagen und Montagen – Workshops
III Gastvorträge
IV Monströse Un/Ordnungen, oder: Auf dem Weg zum ›unreinen Schreiben‹ (Slides aus dem Schreiblabor)
V Filmische Gestalten des Versammelns
Versammlungen im Rücken der Figuren (I):
The General (USA 1926, Buster Keaton)
Hier kommt ein visuelles Grundmotiv bei Buster Keaton zum Tragen: die Verschossenheit der Figuren in ihr Tun bei gleichzeitiger Ausblendung des Umfelds.
Versammlungen im Rücken der Figuren (II):
Modern Times (USA 1936, Charles Chaplin)
„Charlies Distanz zum Proletariat wurde schon des Öfteren erwähnt, und sie bestätigt sich auch in dieser Szene: Obwohl er keiner der ihren ist, adressiert ihn die Masse als Mann an ihrer Spitze. In seiner Nicht-Zugehörigkeit ist er doch dem Proletariat unbewusst als Jemand verbunden, der aus dem Nichts erscheinen kann, so wie die Arbeiter plötzlich aus dem Nichts des Off-Screens erscheinen. Charlie sammelt eine leere Flagge auf, aus der erst die Arbeiter ein flammendes Transparent machen. Mit Adorno könnte man sagen, dass der Zufall ihm einen völlig unintentionalen Einfall (das Aufheben der Flagge) zuschiebt, der aber durch einen weiteren Zufall (das Aufkreuzen der Arbeiter) doch mit einer politischen Intention (dem Streik) korrespondiert. In der kontingenten Konstellation dieser Szene ermöglicht gerade die Unbestimmheit des Tramps das Erwachen einer politischen Aktion, an der er zwar nicht partizipiert, die er aber traumwandlerisch anstößt mit einem Einfall, der ihm zugefallen ist: Aus seiner Willensschwäche formiert sich ein aktionistischer Wille, und auf die leere Leinwand der Flagge zeichnen die Arbeiter die Schriftbilder der Freiheit ein.“
[Sulgi Lie: Gehend kommen. Adornos Slapstick: Charlie Chaplin & The Marx Brothers, Berlin: Vorwerk 8 2022, S. 351.]
Gewimmel und Getümmel - Inklusive Versammlung
A Night at The Opera (USA 1935, Sam Wood, starring Marx Brothers)
„In einem Container schmuggeln sich Harpo, Chico und Baroni in Grouchos kleine Schiffskabine. Während Harpo schläft, bestellt Groucho beim Kellner Unmengen von Essen, immer gefolgt von Chicos Wunsch nach ‚two hard - boiled eggs‘ und Harpos unbewusstem Hupen, das Groucho immer als zusätzliches hartgekochtes (Enten-)Ei auf die Wunschliste (über-)setzt. Cavell hat dieses unstillbare Verlangen nach Essen als die ultimative Wunsch -erfüllung des Immigranten gedeutet, der nach der entbehrlichen Überfahrt ins gelobte Land auf ein Leben im Überfluss hofft. Da Harpo während der ganzen Szene schläft, ist die Möglichkeit impliziert, dass es sich bei dieser Wunscherfüllung um eine halluzinatorische handelt: […] Dieses utopische Schlaraffenland aus Essen und Schlafen ist indes nicht nur für exklusive Gäste reserviert: Als falsche Passagiere entern die Marx Brothers das Schiff, um die Kabine für alle beliebigen Gäste zu öffnen. Plötzlich kommt es zum Andrang von völlig unerwarteten Besuchern […]. Das filmische Bild öffnet sich für die Heterogenität dessen, was nach Barthes eigentlich keinen Platz im Bild für sich beanspruchen kann. […] Die Marx Brothers vermischen sich mit den sozial deprivilegierten Arbeitern und Service-Kräften des Schiffspersonals, um die Kabine ganz wörtlich zum Bersten zu bringen. Entscheidend ist nun, dass sich die vervielfältigten Körper nicht zu einem Massenornament fügen, sondern sich in ein anarchisches Gewimmel und Getümmel auflösen, das keiner Ordnungsfunktion mehr gehorcht. Und trotzdem gibt der filmische Kasch dieser Vielheit ein gemeinsames Gefäß, einen gemeinsamen Raum, eine ge meinsame Form […].“
[Sulgi Lie: Gehend kommen. Adornos Slapstick: Charlie Chaplin & The Marx Brothers, Berlin: Vorwerk 8 2022, S. 249ff.]
Gewimmel & Getümmel: Film versammelt Menschen, Tiere und Dinge (I)
A Day at the Races (USA 1937, Sam Wood, starring Marx Brothers)
Gewimmel & Getümmel: Film versammelt Menschen, Tiere und Dinge (II)
The Party (USA 1968, Blake Edwards)
Links
- https://art-of-assembly.net/podcast/i-assembly-as-preenactment-oliver-marchart-dana-yahalomi-florian-malzacher/
- https://die-fuenfte-wand.de/de/about
- https://www.harun-farocki-institut.org/de/
- https://www.cargo-film.de/
- https://newfilmkritik.de/archiv/2008-11/das-schweigen-der-weblogs-wird-unterbewertet/
- https://www.kunst-der-vermittlung.de/
- https://www.philis.uni-mainz.de/
- https://www.philis.uni-mainz.de/schreiben/
- https://www.schreibwerkstatt.uni-mainz.de/
How-to-Write (Regeln, Ratgeber, Manifeste)
- https://litup.ch/site/wp-content/uploads/Uncreative_Handout_web.pdf
- https://www.languageisavirus.com/creative-writing-techniques/
- https://www.freewriterscompanion.com/howtofreewrite/
- http://peterelbow.com/articles.html
- https://www.research.ucsb.edu/sites/default/files/RD/docs/FREEWRITING-by-Peter-Elbow.pdf
»10 Things Writers can learn from Lewis Carrol«, https://www.writerswrite.co.za/10-things-writers-can-learn-from-lewis-carroll/
»9 Tactics Writers can Learn from John McPhee«,
https://brockswinson.medium.com/9-tactics-writers-can-learn-from-author-john-mcphee-cbf28601eb2e
»How to Write - George Orwell lays out 6 rules« - https://philrosen.blog/2023/01/16/1984-george-orwell-advice-writing-author-books-communication-literature-animal-farm-2023-1/
»Zadie Smith teaches 10 practical and poetic rules of writing«, unter:
https://philrosen.blog/2023/01/06/writing-zadie-smith-teach-practical-rules-poetic-writer-author-language-2023-1/
Kurt Vonnegut, »How to write with style« (1980), unter: https://kmh-lanl.hansonhub.com/pc-24-66-vonnegut.pdf
Dank
Unser besonderer Dank gilt Daniel Alles, Johannes Binotto, Fabian Kling, Laura Oldenbourg, Volker Pantenburg, Monika Rinck, Kerstin Rüther, dem Kollegium des Instituts für Film-, Theater-, Medien- und Kulturwissenschaft (JGU Mainz) und den Mitarbeiter*innen des Gutenberg Lehrkollegs (GLK Mainz) für die Förderung, den Austausch und die inhaltliche, technische wie gestalterische Unterstützung auf allen Ebenen!