Vor einiger Zeit habe ich mir einen uralten Amateurfilm angesehen. Ein paar Soldaten ziehen durch ein nameloses Land und es ergeht ihnen elendig. Trotz einer Laufzeit von nur knapp einer Stunde wich die Begeisterung noch lange vor dem Ende einer Verwunderung, wenn nicht gar Bestürzung. Was wir sahen, war erschütternd banal. Es handelte sich um einen schlicht inkompetent zusammengefügten Streifen: Schief nachsynchronisierter Ton, dessen wichtigste Wirkung darin bestand, die oft kraftvollen Bilder mit Dialogen zu versehen, bei denen in jedem Satz das unangenehme Quietschen einer Schul-Theaterbühne hörbar war. Die Schauspieler (nur eine Frau darf ins Bild, und das nur als Lustobjekt) lassen manchen besonders durch unverdaute Shakespeare-Lektüre verdorbenen Satz immerhin fast nach Parodie klingen. Wenn wir während einer besonders gekünstelten Rede, die im Filmtod endet, lachen dürfen, dann müssen wir der durch Subtitlität unverdorbenen Schauspielkunst eines High-School-Bühnengottes danken. Das Ganze dient immerhin einer moralisch-politischen Botschaft: Krieg ist schlecht. So brachial-banal niedergeschrieben ist diese Einsicht des jungen Filmemachers aber leider immer noch ernster zu nehmen als in diesem Zelluloid-Aufsatz. Eigentlich hätte all das bei einer No-Budget-Produktion enthusiastischer Jugendlicher aus dem Jahr 1952 niemanden allzu sehr überraschen dürfen.
Ich schreibe dies mit dem Rücken zu einem Regal sitzend, in dem nebeneinander sechs Bücher stehen, die alle ein Kapitel über diesen Film enthalten. Allesamt erkennen in diesen nicht ganz 60 Minuten einen Funken von Genie oder dergleichen. Es ist vielleicht einer der am häufigsten besprochenen Amateurfilme überhaupt. Es ist definitiv einer der am häufigsten gesehenen. Auf Letterboxd ist es der am sechsthäufisgten gesehene Film des Jahres 1952! Dieser Film ist Fear and Desire (USA, 1952, Regie: Stanley Kubrick) von Stanley Kubrick.
Stanley Kubrick: Das ist der einzige Grund, warum heute noch ein Wort über diesen Streifen verloren wird, vermutlich sogar, weshalb er überhaupt erhalten ist. Die Probleme des Films sind so offensichtlich, dass er vielleicht auch zu den am häufigsten entschuldigten Werken der Filmgeschichte gehört. Fear and Desire ist eine interessante Seltsamkeit, es ist ein geadldeter schlechter Film. Alle Filme Stanley Kubricks in einem Buch zu besprechen ist sowieso eine interessante Aufgabe, zumal sie auf den ersten Blick nicht viel mehr verbindet als dieser Name. Natürlich: Die tiefsinnige Botschaft „Krieg ist böse“ taucht hier nicht zum letzten Mal in seinem Werk auf. Trotzdem sind Dr. Strangelove (UK, USA, 1964), Full Metal Jacket (UK, USA, 1987) und Fear and Desiredrei Filme die mehr trennt, als sie verbindet. Stände nicht immer derselbe Name in den Vorspännen, könnte man die Zusammengruppierung aller Filme aus Kubricks 50-jähriger Karriere leicht für völlig arbiträr halten.
Wenn mehrere Filme versammelt und auf Gemeinsamkeiten untersucht werden, so es meistens bloß der Name, der unter Regie im Vorspann steht, der diese Filme zusammenhält. Ein kurzer Blick auf die Büchersammlung der Filmwissenschaft Mainz bestätigt, dass weit über die Hälfte aller Publikationen, die mehr als einen Film behandeln, die Titel nach diesem Kriterium gruppieren. Dieser Auterismus ist bereits umfangreich kritisiert worden. Somit ist längst klar, dass es sich nicht um eine inhärente Notwendigkeit handelt, sondern um eine mögliche, nie zwingende und häufig nicht einmal sinnvolle Praxis des Versammelns und Ordnens verschiedene Filme.
Das soll mich hier aber nicht weiter interessieren. Zu mächtig ist die Idee, dass irgendein Künstler mit praller Seele und angeborenem Genie auf die Welt kommt und in allem was er (ab und an auch sie) tut, vom größten Meisterwerk bis hin zu nichts weiter als einer Unterschrift, notgedrungen einen Teil dieser Künstlerseele abstrahlen lässt. Das erinnert manchmal an Reliquienverehrung. Wir wollen an die (Geistes-)Kraft von inspirierten Originalgenies glauben und nicht an die Kraft und Zwänge von materiellen Umständen.
Dieser Auteurismus kann eine nicht nur legitime, sondern auch interessante Linse sein. Nur in den allermeisten Fällen bei weitem nicht die Interessanteste. Diese fast schon intuitive Art, Filme zu versammeln, stellt immer wieder dieselbe Frage: Was haben diese Filme eines Menschen gemein? Häufig nicht sehr viel, was die Frage freilich noch interessanter machen mag. Für mich wird dies dennoch nie unter die Top-Ten-Kriterien, nach denen sich Titel sammeln lassen, fallen.
Viele andere Methoden sind naheliegender. Fear and Desire wäre interessant im Vergleich mit anderen Amateurproduktionen aus dem Jahr 1952 oder zusammen mit anderen Anti-Kriegsfilmen zur Zeit des Koreakriegs. Mich persönlich würde es vielleicht mehr reizen, nicht die weitere Karriere des Regisseurs Stanley Kubrick zu verfolgen, sondern eines der Schauspieler. In all diesen Fällen würde man den Streifen als historisches Zeugnis, als einen Film von vielen und nicht als Reliquie betrachten.
Aus derselben Perspektive mag es bedauerlich sein, dass die wirtschaftlich erfolgreichsten Filme gerade der ferneren Vergangenheit so gut wie vergessen sind und in der filmwissenschaftlichen Literatur kaum noch Niederschlag finden. Dafür aber bleiben absolute Nebenschauplätze der Filmwirtschaft von 1952, wie Fear and Desire, erhalten. Heute weiß man im Allgemeinen mehr von diesem Film als im Jahr seiner Entstehung. Es ist kein herausragend schlechter Film und auch nicht völlig frei von Ideen, auch wenn alles sehr halbgar umgesetzt wird. Aber über wie viele tausend Filme junger Leute nur aus dem gleichen Jahr hätte man dasselbe sagen können? Und wie viele davon wurden längst entsorgt? Nur Fear and Desire wird verteidigt. Nein, vielmehr wird Kubrick verteidigt.
Und hier soll jede Kritik an dieser Praxis enden. Denn ihre wundervolle Nebenwirkung ist es, dass auch völlig abseitige Werke auf uns kommen, dass Filme erhalten werden, die Einblicke in eine Welt geben, von der man sich sonst vielleicht allzu schnell abwenden würde.
Man kann diese in einer Reihe von Kategorien einteilen: Die Frühwerke sind besonders interessant, sie geben Einblick in den Unterbau der Filmwirtschaft einer jeden Epoche. Von B-Movies in den 1930er Jahren, über selbstfinanzierte Experimente in den 50er Jahren, Fernsehfolgen in den 60er Jahren, Werbung in den 70er Jahren und Musikvideos in den 80er Jahren. Dann gibt es die vergessenen Filme, die entweder schon in ihrer Zeit kein Publikum fanden, oder dem Publikum späterer Jahrzehnte unzugänglich wurden. Besonders faszinierend, aber auch besonders speziell und von der Autorentheorie nicht völlig zu trennen, sind die abstrusen Spätwerke einst anerkannter Filmemacher, mit denen sie sich selbst in den Ruhestand beförderten.
Die Tradition, Auteurs hochzuhalten, hat einen Wert für die Filmgeschichte. Nicht, weil ein wirklich mittelprächtiger Film wie Fear and Desire ein unterschätztes Meisterwerk wäre, sondern eben, weil er ein mäßiger Film ist, der aber typisch für die Epoche ist und uns deswegen Einblicke gibt, die wir ohne das Dogma des Autorenkinos nicht ohne Weiteres hätten.
Schlechte Filme werden erhalten, absurde Filme werden erhalten, schräge Filme werden erhalten: Das einzig Traurige daran ist überlegen zu müssen, wieviel mehr schlechte, schräge und absurde Filme es gäbe, die wir heute missen müssen, weil ihre Urheber:innen nie die Situation kamen, ein abstrahlendes Meisterwerk abzudrehen.
Nur durch Zufall stammen diese interessanten Rohlinge von Personen, die später glattere Werke schufen. Sie sind ein Segen für die Filmgeschichte. Sie geben Einblicke in den Boden, aus dem all die anderen kanonisierten Werke gewachsen sind.
Der nächste Schritt wäre es, noch viel mehr Filme nach dieser Logik zu versammeln. Stanley Kubrick mag sein eigener genialer Kameramann gewesen sein, aber wenn wir auch die Arbeiten eines guten Director of Photography sammeln, dessen Lebenswerk sich einmal mit der Filmographie eines Kubrick geschnitten hat, dann könnten noch viel mehr Filme erhalten werden. Von Designer:innen, Schauspieler:innen, Autor:innen und Produzent:innen wollen wir gar nicht erst anfangen. Wenn es die Logik der Filmerhaltung ist, nur die Streifen mit großen Namen darauf zu bewahren, dann ist es einfacher, jeden Film, der immer ein kollektives Gemeinschaftswerk ist, nach links, nach rechts, nach oben oder nach unten mit solchen Werken zu verknüpfen, bis ein Knäuel entsteht, dass die Gesamtheit der Filmgeschichte repräsentiert.
Die Geschichte ist nichts mehr als eine Gesamtheit von unzähligen Biographien. Und jede Biografie besteht aus nichts mehr als Querverweisen auf andere Biographien, jeder Film ist letztlich nur ein Kapitel, ein Absatz, eine Fußnote oder ein Flackern im Hintergrund, einer, zweier, dreier oder tausender Biographien. Kein Film gehört nur einer Biographie an. Zur Kubrick-Biographie gehören auch die Biographien seiner filmischen Vorbilder, seiner mäßig begabten Schauspieler aus Fear and Desire und seiner Zuschauer:innen im Kino als Ergänzungsbände. Eine biografische Sammlung muss Sammlungen zum Leben vieler weiterer Personen enthalten. Und ein besonderer Schnittpunkt vieler Leben, gehört letztlich allen und keinem. Irgendwo wird aus der Sammlung der Biographien Soziologie. „Anfängerfilm“ oder „Koreakrieg“ sind stärkere horizontale Verbindungen zwischen Lebensläufen als die vertikale Linie, die das Leben Stanley Kubricks beschreibt.
Die unperfekten Werke sind die wirklich interessanten Werke der Filmgeschichte, jene Filme, die nicht überzeitlich ihre Wirkung bewahrt haben, sagen mehr über das Vergehen der Zeit aus, als jene die wir Klassiker nennen. Und in ihnen scheinen viel charaktervoller die Biografien der Beteiligten durch, die unter einer polierten Oberfläche nur unsichtbar würden.
Die Geschichte der Nebenwerke muss immer spannender sein als eine Geschichte der Hauptwerke. Nur der Auteurismus hat abertausende Minuten inklusive der sechzig von Fear and Desire vor Vergessenheit und Verfall gerettet. Die Sammlungen auteuristischer Literatur können auch quergelesen werden. Würde man nur die ersten Kapitel zu den jeweiligen Frühwerken in einer Zeit in einem Band versammeln, würde vielleicht ein viel größeres Bild der Gesellschaft dieser Ära entstehen.
Jede Filmographie ist eine Sammlung horizontal zu einem Zeitstrahl. Hiervon existieren viele und es dürfen ruhig immer mehr werden. Umso mehr es gibt, desto faszinierender wird es, eine senkrechte Linie durchzuziehen. Oder besser noch: im Zickzack zu sammeln. Diese biografischen Sammlungen, die so überrepräsentiert sind, sie bilden einen wunderbaren Grundstock, um aus ihren Nebensächlichkeiten Hauptstücke viele neuer Sammlungen zu machen.