Wenn alte Rocker:innen nach Wacken gehen, wo gehen Filme hin, um aufeinander zu treffen? An den Ort, wo sich auch Menschen versammeln, um in kurzer Zeit ein breites Angebot an Filmen zu konsumieren: Filmfestivals. Wie so ein Treffen unter Musikfans aussieht, lässt sich leicht vorstellen. Aber wie sieht es aus, wenn Filme zusammenkommen und unter sich sind?
Zugegeben, im Gegensatz zu den Festivalbesucher:innen versammeln sich Filme dort nicht ganz freiwillig. Vielmehr werden sie im Zuge einer Kuration versammelt. Bereits hier fängt die Art und Weise an, wie die Filme zueinanderkommen, spannend zu werden. Zunächst einmal liegt die Zusammenkunft der Filme in den Händen der Kurator:innen, die eine sorgfältige Auswahl treffen, sodass die Massen an audiovisuellem Material einem bunt gemischten Publikum vorgelegt werden können. Sind also die Hände der Kurator:innen der Ort, an dem sich Filme eigentlich versammeln? Schließlich bestimmt sich hier die Auswahl der Filme, die erst aufeinandertreffen können.
Einerseits treffen sie physisch aufeinander. Filmsammlungen, DVD-Regale, eine Festplatte mit zahlreichen .mp4-Dateien… Noch anschaulicher in Bezug auf Filmfestivals wird der Gedanke der physischen Versammlung, wenn man sich an die Zeit erinnert, in der für Vorführungen noch große Filmrollen aus dem Archiv gezerrt und zum Verleih über die halbe Welt versandt werden mussten. Für die Filmerfahrung war es notwendig, dass sich Filmmaterial in Gestalt von Rollen an einem Ort versammelte - so wie sie sich sonst nur noch im sprichwörtlichen Keller alter, verstaubter Filmarchive gute Nacht sagen. Erahnen lässt sich dieser Vorgang heute noch durch die DCPs, die nach Herunterladen vom Server auf derselben Festplatte auf ihre Ausspielung auf der großen Leinwand warten.
Andererseits liegt der Ort des Zusammentreffens aber auch in den Händen der Zuschauer:innen. Sie sind das Publikum, die durch ihren Konsum der kuratierten Auswahl an Filmen überhaupt erst ihre Intention geben. Und schließlich sind sie es auch, für die die Auswahl am Ende getroffen wird: Richtet sich das Programm an ein offenes Publikum? Oder nicht vielmehr an eine exklusive Gruppe, ja quasi eine bubble, die unter sich bleibt? Welcher Film passt gut genug ins Programm, ist innovativ genug? Sind das die besten fünf Filme aus allen Einsendungen gewesen – und wenn ja, auf welcher Grundlage wird das entschieden?
Aber egal, wie sorgfältig und bedacht eine Kuration auch sein mag, schließlich ist es immer das Publikum, das geradezu anarchistisch bestimmt, welche Filme gesehen werden. Man möge nur einmal an die zahlreichen Faktoren denken, die darüber entscheiden, welche Filme so aufeinandertreffen und überhaupt erst die Möglichkeit bekommen, miteinander in Kontakt zu treten, sich zu überlagern und schließlich zu interferieren. Und das tun sie im Individuum, dass sich seinen Weg durch das Fest(ival) der versammelten Filme bahnt: Viel seltener als erhofft richtet sich die Filmauswahl der Festivalbesucher:innen nach thematischen Kriterien, die ja auch der Grund sind, warum bestimmte Filme zu einer Sektion zusammengefasst werden. Oft sind es extrinsische Faktoren, äußere Umstände und andere Einflüsse, die das individuelle Filmprogramm bahnen: Uhrzeiten, Spielstätten, sich in die Quere kommende Spielzeiten, die Distanz zwischen zwei Kinos, die es verunmöglicht, von einem Kino ins andere zu hirschen, oder auch die Verfügbarkeit von Kinokarten. Gerade in solchen Fällen ist das von den Festivalbesucher:innen erwischte und erhaschte Programm die Konstellation der wildesten Kontingenzen, Zufälligkeiten und Unvorhersehbarkeiten. Vom kommerziellen Wettbewerbsfilm bis hin zum Archiv-Experimentalfilm können sich damit theoretisch alle Arten von Filmen begegnen, überlagern, in die Quere kommen, neue Beziehungen eingehen. Nicht immer gewollt oder von der Kuration beabsichtigt, aber unaufhaltsam, stoßen filmische Welten aufeinander und schaffen Verbindungen, die ganz eigen und neu sind. Filme, die niemand, der im vermeintlichen Vollbesitz seiner Sinne und seines ‚gesunden Menschenverstandes‘ ist, würde derart bunt und wild zusammengewürfelte Filme in einem Satz verbinden.

Stellt sich nur noch die Frage danach, was Filme eigentlich bei ihrem Zusammentreffen tun. Scheinbar lässt sich diese Frage kurz und schnell beantworten, nämlich: „Nichts!“. Was geschieht, wenn Filme aufeinandertreffen, entsteht in den Köpfen der Menschen, die sie ansehen. Der Film selbst – die Bewegung der Bilder – ändert sich nicht.
In meinem Kopf treffen sich zwei Filme. Das staubige Türschild verkündet ‚Berlinale 2023‘.
Seneca betritt den Raum. Nicht der Philosoph, zumindest nicht ganz. Der Film. Etwas aufgesetzt, künstlich, versucht das zu sein, was man sich beim Begriff „Avantgarde“ vorstellt. Er fühlt sich chronisch missverstanden.
Concrete Valley wartet bereits und lehnt entspannt gegen eine Wand. Er ist eher der ruhige Typ.
Was sich die beiden Filme zu sagen haben? Nicht viel. So prätentiös der eine, so unscheinbar und wunderschön der andere.Seneca beschwert sich über das Publikum seiner letzten Vorstellung. Es habe ihm nicht gefallen. Haben sie seinen Inhalt überhaupt verstanden? Er bezweifelt es. Weshalb sich solche Leute überhaupt zu einem Filmfestival begeben, fragt er sich.
Concrete Valley lächelt und nickt verständnisvoll. Zu gut kennt er bereits die Art von Film, die Seneca vorgibt zu sein. Vielleicht liegt auch ein wenig Überlegenheit in Concrete Valleys Blick. Denn der Tiefgang, den Seneca versucht, vorzugeben, erreicht Concrete Valley mit Leichtigkeit nebenbei. Und darüber ist sich der Film vollends bewusst.
Vielleicht ist diese Form des Treffens aber auch mehr, als wir ihr zuschreiben. Möglicherweise sind es nicht Filmarchiv, Projektor und Leinwand einerseits und die Körper des Publikums andererseits, wo Filme zusammenkommen, sondern Orte, an denen sich diese Pole verflechten. Denn ist es nicht erst das Sehen eines weiteren Films, das uns den ersten wahrhaftig verstehen lässt? Die Art und Weise, wie sie miteinander interagieren, die der Ursprung unserer Cinephilie ist?
Das Filmfestival offenbart in all dem eine besondere Eigenschaft, und zwar die zahlreichen Möglichkeiten, wie es Filme aufeinandertreffen lässt: Nicht nur versammeln sich die Filme, um ihrem Publikum zu begegnen, vielmehr vereinen sie ein einzigartiges Publikum, welches den Saal in der Erwartung betritt, etwas Neuem zu begegnen und sich auf eine Erfahrung einzulassen, die sie explizit nicht vorab kuratiert haben, sondern vom Leben haben kuratieren lassen. Denn hier wird die Kuration zum passiven Prozess: Man lässt sie über sich ergehen, lässt sich darauf ein, arbeitet sich durch. Und trifft dabei Menschen, die einen ähnlichen Prozess mit ihrer eigenen Kuration über sich ergehen lassen. Ein Filmprogramm mit unzähligen Einflüssen.
Er hat sich die Gesellschaft von Seneca nicht ausgesucht. Dass Seneca allgemeinhin das ist, was sich am ehesten als Platzhirsch oder gar Diva beschreiben lässt, hatte sich mittlerweile bei allen herumgesprochen. Davon gab es hier sicherlich nicht wenige Filme. Doch gab es wenige Filme, deren Arroganz weniger gerechtfertigt war als Senecas. Ob Concrete Valley mit ebenso geschwollener Brust auftreten sollte?
Ein Gong ertönt. Die nächste Vorführung beginnt. Seneca rollt leicht mit den Augen, während Concrete Valley neugierig lächelt. Der nächste Film im Programm? Llamadas desde Moscú.