Wenn aus schützender Exklusion gefährliche Inklusion wird...

Unwissen und Glück - Wissen und Unglück

Versammlung von Gleichgesinnten. Ein Miteinander - Gleichgesinnte mit einem Anderen. Gleiche sinnend nach dem Leben eines Anderen. Antichristliche Versammlungen sinnend nach dem Baby einer Schwangeren und dem Leben einer Jungfrau.

Viola Prinz
Ein nackter Mann wird von einer Gruppe Personen geführt.
Unbekleidet im Kreise Bekleideter. Hoffnungslos im Kreise Hoffnungsvoller. Das Opfer im Kreise Opfernder (THE WICKER MAN, UK 1973, Robin Hardy).

Der Philosoph Theodor Adorno vertritt die Ansicht, dass ein Essay nicht bei Adam und Eva anfangen sollte,1  deshalb beginnt dieses bei Matthäus: ,,Selig sind die geistlich Armen; denn das Himmelreich ist ihr“,2  schrieb der Apostel, um Eingang zu finden in Religionssatiren wie Monty Python's Life of Brian (GB, 1979) von Terry Jones oder religiös angehauchte Filme wie Ben Hur (USA, 1959) des Regisseurs William Wyler. Aber wie ist diese Aussage eigentlich zu verstehen? Ist ,,geistlich arm’’ gleichbedeutend mit dumm? Meint die Aussage salopp gesagt, dass die Dummen glücklicher sind, weil ihr Intellekt zu beschränkt ist, sie an den nicht offensichtlichen Problemen des Lebens teilhaben zu lassen? Oder meint das Zitat, dass die Dummen nach ihrem Tod ins himmlische Jenseits fahren, um für ihr intellektuell beschränktes Leben im Diesseits entschädigt zu werden? Diese Fragen lassen sich nicht beantworten und es gibt noch viele weitere Interpretationen dieser Apostelaussage. Eine mögliche ist jedoch, dass ,,geistlich arm’’ nicht mit dumm gleichzusetzen ist, sondern mit unwissend. Unwissend in Bezug auf eine einzelne, aber wichtige Tatsache. Unwissend in Bezug auf eine Tatsache, deren Enthüllung das glückliche Leben des Unwissenden, das glückliche Leben im diesseitigen Himmelreich, nicht nur ausnutzen, sondern sogar beenden kann. Unwissend in Bezug auf eine Versammlung von Menschen, deren Ziel die Ausnutzung und Beendigung des glücklichen Lebens eines Einzelnen ist. Eines einzelnen bis dato glücklichen Unwissenden. Eines einzelnen christlich religiösen Unwissenden. Eines einzelnen christlich religiösen Unwissenden, der einer antichristlichen Versammlung gegenübersteht. 

Der Film The Wicker Man (UK, 1973) von Robin Hardy beginnt mit dem Besuch eines katholischen Gottesdienstes durch den strenggläubigen und jungfräulichen Polizisten Neil Howie (Edward Woodward) und seiner nicht näher benannten Verlobten (Alison Hughes). Inmitten einer Versammlung von Menschen, die das gleiche Ziel, die Lobpreisung Gottes, verfolgen, fühlen sich die beiden sichtlich wohl und blicken glücklich ihrer Zukunft als Ehepaar entgegen. 
Bereits ein Ehepaar sind Rosemary (Mia Farrow) und Guy (John Cassavetes) Woodhouse, die zu Beginn von Roman Polanskis Rosemary's Baby (USA, 1968) ein Apartment im New Yorker Bramford House besichtigen und mieten, sodass sie Teil einer Hausgemeinschaft werden. Rosemary freundet sich mit ihrer Nachbarin Terry (Victoria Vetri) an, die jedoch kurz darauf durch einen Sprung aus dem Fenster vermeintlich Suizid begeht. Bei der polizeilichen Untersuchung treffen Rosemary und Guy erstmals auf Minnie (Ruth Gordon) und Roman (Sidney Blackmer) Castevet, bei denen Terry zuletzt gewohnt hat und werden von dem Paar zum Abendessen eingeladen. Doch während sich Guy mit dem älteren Ehepaar anfreundet, fängt Rosemary an, sich in seiner Gegenwart unwohl zu fühlen und sich zu distanzieren. Als sie ihren Eisprung hat, glaubt sie zu träumen, von einem unmenschlichen Wesen vergelwaltigt zu werden, während eine Versammlung Nackter - inklusive Guy, Minnie und Roman - dies durch monotone Gesänge begleitet. 

Eine nackte Frau liegt auf einem Bett, umringt von nackten Menschen.
Während die anwesenden Satanisten mittels Nacktheit ihrer Zusammengehörigkeit Ausdruck verleihen, ist Rosemarys Nacktheit ein Vorbote auf ihre ungewollte sexuelle Verbindung mit dem Teufel (THE WICKER MAN)

Sie erfährt von Guy, dass dieser mit ihr geschlafen habe, als Rosemary in Folge erhöhten Alkoholkonsums ohnmächtig wurde, um die Möglichkeit der Empfängnis nicht verstreichen zu lassen. Trotz Schocks über Guys Untat erhält sie kurze Zeit später freudig die Nachricht, dass sie tatsächlich ein Kind erwartet.

Von Gesängen begleitete Nacktheit findet auch Howie in The Wicker Man  vor, als er im Zuge des Verschwindens des Mädchen Rowan Morrison (Gerry Cowper) auf die Insel Summerisle beordert wird. Als er das Schloss von Lord Summerisle (Christopher Lee) aufsucht, sieht er eine Gruppe nackter Frauen, die um ein Feuer tanzen und das ungeborene Baby einer weiteren Frau besingt. 

Eine Gruppe Frauen kniet nackt in einem Steinkreis um ein Lagerfeuer.
Nackte Rituale in THE WICKER MAN.

Nacktheit als Symbol der Verbundenheit. Nacktheit als Symbol eines gemeinsamen Ziels. Das gemeinsame Ziel, das glückliche Leben eines unwissenden Einzelnen für die eigenen Zwecke auszunutzen. Der unwissende Einzelne Sergeant Howie, der unter dem Vorwand eines verschwundenen Mädchens auf die Insel Summerisle gelockt wurde, um als lebendiges Menschenopfer für die Götter der fruchtbarkeitskultischen Inselbewohner in einer großen Weidenfigur bei lebendigem Leibe zu verbrennen. Bei lebendigem Leibe zu verbrennen, während die versammelten Inselbewohner beschwingt Gesänge anstimmen und freudig um den Scheiterhaufen Howies tanzen.

Nacktheit und Gesang finden sich in Rosemary's Baby und The Wicker Man aber nicht nur als Symbol des gemeinsamen Ziels, das glückliche Leben eines unwissenden Einzelnen auszunutzen, sondern auch als Zeichen sexueller Begierde. Als Zeichen sexueller Versammlung. Doch während die verheiratete Rosemary im Gott geschaffenen Zustand - vermeintlich - mit ihrem Mann den Paarungsakt vollzieht, versucht die nackte Gastwirtstochter Willow (Britt Ekland) den jungfräulichen Sergeanten in The Wicker Man mit sirenenhaftem Gesang in ihr Schlafzimmer zu locken. Howie kann sich unter großer Anstrengung Willows Verführungsversuchen erwehren, was ihm jedoch zum Verhängnis wird, da er als Jungfrau den Bewohnern Summerisles ein perfektes Menschenopfer liefert, wie ihm sadistisch freundlich erläutert wird. Sein Ausschlagen sexueller Versammlung als potenzielle Folge von Willows Gesang führt zu todbringender Versammlung mit Gesang. 

Howies anfänglich schützende, von Unwissenheit getragene Exklusion wird zur tödlichen, unfreiwilligen und offenbarenden Inklusion. Der Plan der Bewohner steuert auf die tödliche Offenbarung ihres Opferungsvorhabens gegenüber Howie hin. Offenbarung und Tod. Wissen und Tod. Howie - der unwissende Einzelne. Der unwissende Einzelne, dessen glückliches Leben von einer Versammlung Wissender ausgenutzt und geopfert wurde. Ausgenutzt und geopfert für den eigenen Zweck.

Rosemary hingegen ist sich aufgrund eines Buches ihres Freundes Edward Hutchins (Maurice Evans) einer potentiellen Gefahr bewusst. Einer potentiellen Gefahr seitens der von Roman Castavet angeführten Teufelsanbeter. Roman Castavet - der Sohn des berühmt berüchtigten Satanisten Adrian Marcato. Sie betritt mit einem scharfen Küchenmesser bewaffnet das Wohnzimmer der Castavets, in welchem eine Gruppe von Menschen um eine mit schwarzen Tüchern behängte Wiege versammelt ist und teilweise auf ihre Anwesenheit abweisend reagieren. Roman jedoch erklärt ihr verständnisvoll, dass Rosemarys Kind das Kind des Satans höchstselbst sei, woraufhin sie zunächst verzweifelt einen Zusammenbruch erleidet und erkennt, dass ihre Vergewaltigung kein Traum, sondern die Realität in Anwesenheit aller in Romans Apartment Versammelten war. Diese Tatsache sollte Rosemary jedoch nicht erfahren - sie sollte in dem Glauben gelassen werden, das Baby sei während der Geburt gestorben. Unwissenheit und vermeintliches Glück. Wissen und Unglück. Willen und Glück. Unwillen und Unglück. 

Eine Frau in Nachthemt steht umringt von Personen in Abendgarderobe und schreit.
In Gesellschaft und doch allein. Rosemarys Außenseiterposition in einer Gruppe von Satanisten zeigt sich nicht nur inihrer fassungslose Mimik in Kontrast zur Ungerührtheit der Anderen, sondern auch durch ihre helle Hauskleidung inmitten dunkel elegant Gekleideter. - ROSEMARY'S BABY (USA 1968, Roman Polanski)

Ihr eigener Gatte ließ Rosemary für seinen beruflichen Erfolg vom Teufel begatten. Rosemary - die unwissende Einzelne. Ausgenutzt für den eigenen Zweck. Rosemarys einfaches, aber zufrieden stellendes Eheleben mit Guy, ihr persönliches Himmelreich, steht durch ihre unfreiwillige Involvierung in dessen Machenschaften mit den satanistischen Versammlungen ihrer Nachbarn vor dem Untergang. Aus ihrem schützenden Exkludiertsein wurde gefährliche Inklusion. Ihr Himmelreich auf Erden wurde zur Hölle auf Erden. Sie selbst zur Unheilgen Rosemary Mutter Satans. 

Als sie ihr Kind jedoch schreien hört und Roman ihr anbietet, ihre Mutterrolle auszuüben, ohne sich den Teufelsanbetern anschließen zu müssen, beginnt sie ihren Sohn in seiner Wiege zu schaukeln und anzulächeln. Liebe besiegt alles und Mutterliebe besiegt alle. 
Rosemary akzeptiert ihr durch den Teufel empfangenes Kind und bleibt als für das Filmpublikum augenscheinlich glückliche Mutter in einer Versammlung von Satanisten zurück, sie hat ihr Himmelreich in Gestalt ihres leiblichen Sohnes und ihrer Liebe zu diesem zurückerhalten. Sergeant Howie verbrennt bei lebendigem Leibe inmitten der versammelten Bewohner der Insel Summerisle und verliert sein diesseitiges Himmelreich. Ob er das Himmelreich des Jenseits erfahren wird, bleibt für das Publikum unklar. Die Zuschauenden ist nun der die geistig Armen - die Unwissenden. Aber sie sind nicht die unwissenden Einzelnen, da sie mit anderen Filmzuschauenden versammelt sind, die über den Verbleib von Howies Seele ebenfalls im Unklaren gelassen werden. 

Ob die Versammlung der Filmzuschauenden physisch vor einer Leinwand oder einem Fernseher stattfindet oder nur mit Unbekannten vereint im Geiste - vereint im geistig Armen - ist dabei bedeutungslos.

 

Literatur:

Adorno, Theodor: 'Der Essay als Form', in: Gesammelte Schriften, Bd. 11: Noten zur Literatur. Frankfurt/Main 2003.

Bibelgesellschaft und Bibelwerke im deutschsprachigen Raum: Die gute Nachricht. Stuttgart 1971.

 

 

 

  • 1

    Adorno 2003, S. 10. 

  • 2

    Matthäus 5, 3.