Live Aid 1985. 72.000 Menschen drängeln sich im Londoner Wembley Stadium, um den besten Blick auf die Bühne zu erhaschen. Die bisherigen Bands, darunter The Who und Led Zeppelin, konnten die Masse bislang nicht mobilisieren. Die Telefone für die Spendenanrufe bleiben stumm. Dann betritt Freddy Mercury die Bühne, gefolgt von seinen drei Bandkollegen. Im Stadion wird es andächtig still. Spannungsvoll erwarten die Fans, welcher Song aus dem Queen-Repertoire den Live-Act eröffnen wird. Der Frontmann spielt die ersten Noten von „Bohemian Rhapsody“ an und die Menge explodiert. 72.000 Stimmen jubeln und kreischen durcheinander. Erst, als der Gesang einsetzt, schlägt das wirre Kreischen der Fans in eine textsichere Begleitung der Lyrics um. Gebändigt und einstimmig bildet die Masse im Wembley Stadium einen dichten Klangteppich hinter Mercurys Stimme. Kurz darauf laufen sämtliche Leitungen für die Telefonspenden heiß.
So stellt es zumindest der Film Bohemian Rhapsody (USA/GB, Bryan Singer/David Fletcher) von 2018 dar. Während sich Set- und Kostümdesign peinlich genau an die Fernsehübertragung von 1985 halten, wird die überhöhte Darstellung des Queen-Acts in der Rezeption ausgiebig kritisiert. Viele Zeitgenoss:innen fanden den Auftritt der britischen Rockband eher enttäuschend, da sie sich anders als beispielsweise Mick Jagger oder David Bowie kein spezielles Programm für das Spendenkonzert einfallen ließen, sondern lediglich die Promo-Songs für ihre Tour herunterspielten. Doch die positive Darstellung der Band ist kaum verwunderlich, insbesondere weil Gitarrist Brian May maßgeblich an der Produktion des Films beteiligt war.
Viel interessanter als die Debatten hinsichtlich der historischen Authentizität ist jedoch die Art und Weise, wie Bohemian Rhapsody in seinem Reenactment des Live Aid-Konzerts seine filmischen Mittel und gleichsam die dargestellte und rezipierende Masse organisiert. Wie lässt sich das audiovisuelle Kollektiv beschreiben, das im Musik-Biopic entsteht?
Musik
Musik ist gestaltete Zeit. Als solche lässt sie sich kaum beschreiben, schließlich entzieht sie sich jeglicher Anschaulichkeit. Gleichzeitig ist Musik allerdings Teil der physisch-materiellen Welt. Eine als mechanische Welle fortschreitende Deformation, in Abhängigkeit von Raum und Zeit. Musik wird von unserer räumlichen Umgebung hervorgebracht und ihre affizierende Wirkung bringt ebendiese Umgebung hervor. Musik ist eine immaterielle Materialität, eine innerliche Äußerlichkeit.
Vor diesem Hintergrund wird offensichtlich, wieso Musik ein pankulturelles Instrument zur Identitätsstiftung darstellt. Musik kann einerseits erzeugt und gestaltet werden. Man kann sie Regeln unterwerfen, normieren und organisieren. Sie lässt sich kategorisieren, beurteilen und mathematisch antizipieren. Andererseits kommt sie durch ihre Abstraktheit einem bloßen Gefühl nahe. Gehörte Musik lässt sich kaum verorten. Sie tritt selten als etwas Externes auf, das von außen auf ein Individuum einwirkt. In ihr gibt es keinen Konflikt zwischen Signifikanten und Signifikat, weil sie keinen Gegenstand hat. Musik möchte nichts bezeichnen außer sich selbst; sie erscheint als verinnerlichte Äußerlichkeit.
Beinahe jede Form des menschlichen Zusammenlebens macht sich diesen Doppelstatus der Musik zunutze. Religiöse Gruppierungen, Disziplinaranstalten jeglicher Art und Nationalstaaten bedienen sich dieser verkehrenden Qualität von Musik, um bestimmte Innerlichkeiten im Kollektiv hervorzurufen. Nicht ohne Grund wurden viele politische Entwicklungen der Geschichte von musikalischen Strömungen begleitet. Man denke an die Chöre im Vormärz, den Jazz im Nationalsozialismus oder Rock’n‘Roll im Kontext der Bürgerrechtsbewegung. Die Musik tritt in all diesen Fällen als Medium zwischen Innen und Außen auf, als Brücke zwischen Gefühl und Realität, aber auch zwischen einem Subjekt und seinen Mitmenschen.
Beim Prozess des Mitsingens wird diese erlebte innere Äußerlichkeit der Musik durch Affirmation verstärkt. In diesem Fall wird das Individuum nicht nur durch einen äußeren Stimulus innerlich angetastet, sondern es transformiert sich gleichsam selbst zu einem Verstärker mechanischer Wellen. Die Konzerterfahrung stellt das Umspannwerk zwischen dem Subjekt und seiner stofflichen Umwelt dar, aber auch zwischen der individuellen Verfasstheit und dem Kollektiv. Die innere Gefühlswelt kehrt sich nach Außen und wird zu einer geteilten Erfahrung.
Film
Der Film ist nicht nur ein Massenmedium, sondern das Medium der Masse. Im 19. und 20. Jahrhundert haben einige Kunstgattungen versucht, dass moderne Großstadt-Phänomen der Menschenmassen einzufangen und zum Ausdruck zu bringen. Im naturalistischen Theater baute man die Bühnen erheblich aus, um möglichst viele Statist:innen darauf platzieren zu können. Hierbei handelte es sich um den Versuch, der Masse im Akt der Reproduktion künstlerisch habhaft zu werden. Einen anderen Ansatz verfolgte die Malerei, namentlich unter expressionistischen und futuristischen Künstler:innen. Hier ging es nicht um eine möglichst naturgetreue Reproduktion der Masse, sondern um die Suche nach ihrem Wesenskern. In den Gemälden von Ernst Ludwig Kirchner ziehen unkenntliche Schatten über die Straßen von Berlin, die sich in ihrer Anonymität und Serialität kaum von den Taxen und Trams unterscheiden. Die Versuche der bildenden und performativen Künste mussten jedoch scheitern. Selbst bei absurder Ausweitung der Bühnengröße fand sich das rezipierende Individuum der Masse im Theater immer nur gegenüber. Die Statist:innen bildeten eine Opposition, die Wand zwischen Bühne und Zuschauerraum blieb zwangsläufig bestehen. Die bildenden Künste hingegen konnte aufgrund der naturgemäßen Statik der Bilder die ephemere Qualität der Masse nicht fassen.
Der Film kristallisierte sich im 20. Jahrhundert schließlich als bevorzugtes Mittel zur Darstellung der Masse heraus. In Filmen von Fritz Lang, Sergej Eisenstein und Dziga Vertov bilden Menschenaufläufe das Kernstück der jeweiligen Werke. Die Kamera schwebt über den Tumulten vom 25. Oktober, kauert sich auf die potemkinsche Treppe von Odessa oder schwirrt durch die Unterwelt von Metropolis. Der Film parzelliert die Masse in hunderte Einzelbilder, zeichnet ihre mikro- und makrostrukturellen Dynamiken auf und setzt die Fragmente wieder zu einem Gesamtbild zusammen. Die Opposition aus Bühne und Publikum und die Statik der Malerei waren somit gleichermaßen überwunden. Das Faszinosum der Masse hat seine künstlerische Entsprechung gefunden: Die unvereinbare Spannung von Individuum und Kollektiv, die Gleichzeitigkeit von Ganzheitlichkeit und Fragment. Diese Struktur findet sich in der Sequenzialität des Films wieder.
Das audiovisuelle Kollektiv im Film
Im Konzert-Reenactment von Bohemian Rhapsody treffen diese beiden Sphären aufeinander. Die Stärke dieses Zusammenpralls stellt ein zentrales Charakteristikum des Musik-Biopics dar. In kaum einem anderen Genre treten sich Bild- und Tonebene vergleichsweise gleichberechtigt gegenüber. Die jeweiligen Songs besitzen ein jahrzehntelanges Eigenleben, begründen eine eigene Ikonografie, welche die Souveränität der Bilder beinahe aushebelt. Die auditive Ebene erscheint im Vergleich zur klassischen Filmmusik selbstbewusster, mit kulturellem Kapital und tiefen Wurzeln in den Biografien ihrer Zuhörer:innen. Im Unterschied zur klassischen Filmmusik muss sie ihre Vollwertigkeit als gestaltendes künstlerisches Mittel nicht erst unter Beweis stellen. Stattdessen steht das Filmbild im Rechtfertigungsdruck.
Im Prozess der gegenseitigen Anfechtung entsteht etwas Eigenartiges. Die Bilder der parzellierten Masse werden von den präexistenten Songs der Band überlagert. Der Widerspruch zwischen Individuum und Kollektiv, welcher im Filmbild durch den Wechsel von Innen- und Außenansicht auf die Masse zwar darstellbar, aber keinesfalls aufgelöst wird, erfährt nun eine Befriedung und zugleich eine Zuspitzung. Auf der Leinwand und im Klangraum des Kinosaals amalgamieren die grundsätzlich widersprüchlichen Bilder der Masse mit der ebenfalls widersprüchlichen Erscheinung von Musik. Die äußerliche Innerlichkeit der Songs trifft auf die Gleichzeitigkeit von visueller Innen- und Außenansicht der filmischen Masse. Was zunächst als antagonistisches Spiel zweier Kräfte anmutet, erweist sich nach näherer Betrachtung als komplementär. Während der Film in seiner visuellen Darstellung der Masse eine Vereinbarkeit von dem Teil und dem Ganzen durch Montage zunächst nur behauptet, erscheint diese Behauptung in der Musik realisierbar. Denn weil sich die Musik als äußerliche Innerlichkeit beschreiben lässt, kennt sie die Trennung zwischen Individuum und Kollektiv, bzw. Innen- und Außenansicht nicht. Gleichzeitig fehlt ihr jedoch im Vergleich zum Filmbild die notwendige Konkretion, um der Masse in ihrer materiellen Erscheinungsform habhaft zu werden.
Vielleicht ist das 20-minütige Reenactment des Live-Aid-Konzerts im Finale von Bohemian Rhapsody deswegen so wirkungsvoll. Die präexistenten Songs bilden einen Rezeptor, an dem das Publikum seine vielgesichtige Historie, Erinnerungen und Gedanken diffundieren kann, ohne die Einheit zu gefährden. Veräußerlichte Innerlichkeit wird anschaulich.