Sehen oder gesehen werden?

Wen beobachten wir eigentlich beim Sport? Die Sportler oder das Publikum? Und wer beobachtet möglicherweise uns? Lassen sich diese Fragen auch auf den Sportfilm übertragen?

Tim Jesse
Eine Menschenmenge steht vor dem Brandenburger Tor, vor dem eine Leinwand angebracht ist.
Public Viewing zur EM 2024 am Brandenburger Tor © Tim Jesse

Sehen und gesehen werden. Eine dieser deutschen Redewendungen, die sogleich viel und auch wieder gar nichts aussagt. Oberflächlich, extrem simpel und arrogant verbinde ich damit öffentliche Rituale, mit denen ich wenig anfangen kann. Selbstpräsentation auf Social Media, das Zuschaustellen der teuren Kleidung, Uhren und Autos an den Hafenpromenaden Saint-Tropez‘ oder Monacos, oder politisch/wirtschaftliche Prestige-Events bei denen auf den Cent genau 9999 Euro gespendet werden. Tiefergehend steckt allerdings auch eine Weisheit über die menschliche Natur in diesen vermeintlich plumpen Worten. Wir sehnen uns nach menschlicher Verbindung, kontextualisieren unsere Erfahrungen anhand eines gemeinsam gelernten Erwartungshorizontes.

Während ich schreibe finden wieder einige sportliche Großereignisse statt: Das Roland-Garros Tennisturnier in Paris, die Fußball-EM im eigenen Land und die olympischen Sommerspiele stehen auch kurz vor der Tür. Damit betritt natürlich auch mal wieder ein bestimmter Anglizismus den Mittelpunkt von Presse, Marketing und Diskussionen über das nächste „Lecker Bierchen“: Das Public Viewing. 

Public Viewing ist nicht nur sommerliches Großereignis, sondern auch Vergrößerungsglas der virulentesten Probleme unserer Gesellschaft. Die Straße des 17. Juni in Berlin wird mit Kunstrasen ausgelegt und löst dabei einen Kulturkampf um Grau gegen Grün, Auto gegen Fahrrad und sonstige aktuelle Brandfelder aus. Im Stuttgarter Schlossgarten geht währenddessen das Bier aus, der Grund lautet durstige Dänen. In München bevölkern abertausende Schotten jeglichen öffentlichen Platz, während lautstärk Braveheart (USA, 1995, Mel Gibson) zitiert wird. Und wo wir von Braveheart sprechen: Die Engländer fehlen natürlich auch nicht, sind allerdings damit beschäftigt, einen regen Austausch mit Serben und Albanern in Deutschlands schönster Stadt (sic!) Gelsenkirchen zu führen. Was das nun alles mit Public Viewing zu tun hat? In einem Wort: Versammeln.

Kaum eine Form des öffentlichen Versammelns ist so divers und vielfältig wie das Treiben bei Sportereignissen internationaler Art und dem damit einhergehenden Public Viewing. Demonstrationen? Gesammeltes Interesse! Kinovorführungen? Gemeinsamer Filmgeschmack! Beim Public Viewing hingegen sammeln sich Menschen aller Couleur: Vom aktiven Fußballfan zum passiven Fernseh-Fußballfan zum Eventgänger zum Alkoholiker, der eine grandiose Ausrede zum mittäglichen Konsum vorweisen kann. Und das alles wohlgemerkt nicht auf eine Nationalität, Kultur oder Religion beschränkt, sondern offen für alles und jeden. „Fußballenthusiasten aller Länder, vereinigt euch“ oder so ähnlich.

Aber zurück zum Ausgangspunkt. Offensichtlich steht das übertragene Sportereignis im Mittelpunkt, oder? Public Viewing eben. Irgendwie schon - das ist aber nur die halbe Wahrheit. Viewing Public wäre beispielsweise eine ebenso treffende Bezeichnung. Das Geschehen auf den Stadionrängen innerhalb der Übertragung oder das Beobachten und In-Kontakt-Treten mit den Umstehenden beim Public Viewing ist genauso elementar für dessen Anreiz wie das gemeine Verfolgen von „Rumänien gegen die Ukraine“ oder das Finale der Männer über 5000 Meter. Das Versammeln ist eine anthropologische Konstante, ein allzu menschliches Bedürfnis, das in Ausnahmen aufgehoben wird, aber im Großen und Ganzen bestehen bleibt. Medienschaffende haben dies längst erkannt. Geschulte Kameraleute halten Ausschau nach den interessantesten Crowd-Shots. Die Atmosphäre ist so wichtig für das Ereignis, dass man in Zeiten der COVID-Pandemie auf künstlich inserierte Hintergrundaudio zurückgriff, die ein regulär gefülltes Stadion, eine regulär gefüllte Halle suggerieren sollten.

Somit bleibt von der WM 2014 Mario Götzes Siegtor genauso in Erinnerung, wie ein kollektiv geschocktes brasilianisches Publikum im Halbfinale; vom Superbowl 2024 bleibt Travis Kelces Touchdown gleichermaßen wie exzentrische Showeinlagen seiner Freundin auf der Tribüne - und, sind wir ehrlich: Wer weiß denn überhaupt noch, dass Lewis Hamilton den großen Preis von Spanien 2017 gewann, während Kimi Raikkonen vor laufenden Kameras einen in Tränen aufgelösten, jungen Ferrari Fan tröstete.

Affizierte Gesichter stehen schlussendlich doch immer wieder im Zentrum unserer Rezeption. Sie bieten einen Anker, das Geschehen einzusortieren, mit jemandem mitzufühlen oder auch Schadenfreude zu empfinden. Gerade letzteres ist oftmals der Grund, Sport oder Filme zu verfolgen. Kaum etwas ist geeigneter, eine Masse an Menschen zu emotionalisieren als den ‚Gegner‘, sei er fiktiv oder real, beim Erleben eines Rückschlags zu beobachten.

Übertragen lässt sich das Viewing der Public des Weiteren auf unser aller Lieblingskunstform, den Film. Sport und Film sind seit jeher eng miteinander verbunden. Boxkämpfe beispielsweise wurden schon am Beginn der Filmgeschichte abgefilmt oder nachgestellt, um eine größere Zuschauerschaft an dem martialischen Spektakel teilhaben zu lassen1, zumindest so die Vermarktung. Athletische Körper wurden der Weltbühne präsentiert. Und doch gibt es gewissermaßen duale ProtagonistInnen. Die, die im Ring stehen und die, die auf den Ring schauen. Genau genommen kann man diese Distinktion für jeglichen Sport nutzen. Im Film drückt sich das durch den Kamerastil aus, durch Kadrierung und Beleuchtung. In Luca Guadagninos Challengers (USA, 2024, Luca Guadagnino) gibt es ein fantastisches Match zwischen den zwei titelgebenden Herausforderern. Serve, Return, danach ein furioser Ballwechsel. Ein Match, das den großen Spielen zwischen Federer und Nadal, Becker und Agassi, Borg und McEnroe in nichts nachstehen muss (abgesehen von dem kleinen Umstand, dass es nicht real ist). Und doch könnte das Geschehen auf dem blauen Hard Surface nicht egaler sein. Unser Blick wird nämlich gar nicht auf die Kontrahenten gelenkt, sondern auf das Publikum. Statt Public Viewing provoziert Guadagnino Viewing Public, ist das implizite Geschehen abseits des Courts doch ungemein wichtiger als der gerade ausgespielte Punkt.

Ansicht auf ein Tennisfeld, auf dem zwei Spieler spielen.

Eine Frau im hellen Kleid sitzt zwischen zwei Männern in einer Menge. Alle Anwesenden blicken nach links.
Das Ziel der Kamerafahrt im Film CHALLENGERS ist nicht das Spielgeschehen, sondern das Publikum.

Wenn wir schon beim wichtigeren Geschehen am Rande des Spielfeldes sind: Einer der großen Gründe, weshalb Rocky IV (USA, 1985, Sylvester Stallone) so effektiv als kalter Krieg Propagandafilm funktioniert, war die Bekehrung des innerdiegetischen sowjetischen Publikums im finalen Kampf. Don‘t get me wrong: Der Boxkampf ist großartig unterhaltend. Was aber emotionalisiert ist wieder einmal die Instrumentalisierung der Massen. Viel spannender als den Ring selbst zu beobachten, ist es, den Wandel in der Gunst des Publikums zu erleben. Russen, die sich von der kaltblütigen Maschine abwenden, um dem großherzigen Amerikaner zuzujubeln. Die message des Films wird abseits der eigentlichen Sportler vermittelt.

Beide eben genannten Beispiele stammen aus der Welt des Spielfilms. Die hervorgerufenen Reaktionen des zu betrachtenden Publikums sind dementsprechend präzise inszeniert, um die größtmögliche Fallhöhe zu erzeugen. Es gibt aber auch noch den Dokumentarfilm, in dem die AkteurInnen (zumindest vermeintlich) authentisch und unvorbereitet reagieren. So zum Beispiel bei Free Solo (USA, 2018, Jimmy Chin/Elizabeth Chai Vasarhelyi). Die Fallhöhe (pun intended!) entsteht hier über die Beobachterperspektive. Warum sollte sie auch durch Alex Honnold selbst entstehen? Immerhin gilt er als einer der besten Free-Climber der Welt, seine Fähigkeiten stehen wohl kaum zur Debatte. Interessant wird der Film, wenn die Menschen zu Wort kommen, die Honnold bei den Touren begleiten, um seine Fähigkeiten durch die Linse festzuhalten. Hier öffnet sich nämlich ein moralisches Dilemma. Verhält Honnold sich unter Beobachtung genauso wie bei einer seiner Solo-Touren? Geht er höhere Risiken ein, um der Beobachtung gerecht zu werden? Zudem sind die BegleiterInnen merklich nervöser als Honnold selbst. Was er an Selbstsicherheit ausstrahlt, machen diese durch eine konstante nervliche Anspannung wett. Unsicherheit bei mir als Zuschauer kommt auf, wenn ich die BeobachterInnen beobachte. Ich mache mir beinahe mehr Sorgen um ihre psychische Konstitution als um Honnolds physische Gesundheit.

Das Versammeln stellt immer eine Chance dar, seine Mitmenschen zu beobachten und beobachten ist eine Konstante des Versammelns: Wir beobachten ein Sportereignis und die dabei anwesenden Zuschauenden. Wir beobachten eine Sportübertragung und diejenigen Zuschauenden, die die Regie für beobachtenswert hält. Selbst im Sportfilm spielt das Publikum eine gleichwertige Rolle zum inszenierten Sport. Es stellt sich also die Frage, was eigentlich wichtiger ist: Sehen oder gesehen werden? Public Viewing oder Viewing the Public? Eine Frage, auf die jeder seine eigene Antwort finden muss. Für mich ist es die Mischung aus beidem, die den Reiz am gemeinsamen Erleben ausmacht.
 

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    Vgl. Friedman, Lester D. (2020): Sports Movies. New Brunswick, NJ: Rutgers University Press. S. 124-125.