„White on white, translucent black capes” dröhnt Peter Murphys hallende Stimme mir entgegen, nur weiter verzerrt durch die Audioqualität meines Laptops. Zu den rhythmischen Geräuschen des revolutionären „Bela Lugosi’s Dead“ verrenkt sich der Sänger der Band ‚Bauhaus‘ hinter einem Metallgitter, unterbrochen von kurzen Schnitten auf eine im Dunklen wabernde Masse an Körpern. Hypnotisch, isoliert, werden einzelne Tanzende vom Spotlight erfasst, die Menge um sie herum stumm und blind. Fragmentierte Menschen, Körper, die den Club bevölkern. Durch extreme Close-ups werden die Gesichter von David Bowie und Catherine Deneuve zerstückelt. Ihre Sonnenbrillen reflektieren das Stroboskoplicht, lassen keine Regung zu. Einzelteile, blitzlichtartig aus ihrer Umgebung gerissen. So puzzeln einzelne Körper die Eröffnungsszene von Tony Scotts The Hunger (1983) zusammen. Die Größe des Clubs, die wogende Masse an Menschen ist nur erahnbar, denn das krampfende Discolicht erhellt Körper lediglich allein oder anonym. Kleine Gruppen werden von hinten oder teilverdeckt sichtbar, Silhouetten aus wildem Haar, Spandex und Sonnenbrillen ohne Gesichter. Sie tanzen auf der Stelle oder stehen still, nur Bowie und Deneuve erklimmen zielstrebig die Treppen einer Empore: Sie sind auf der Jagd. Der Geruch nach Schweiß, Haarspray und Begehren hallt durch die Bilder, ich gehe in der Bilderfahrung auf, und fühle mich trotzdem weggestoßen, aber nicht fremd. Distanziert, aber beteiligt, in der Schwebe. Es ist eben dieser Schwellenzustand, in der ich mich wohl fühle, der Leerraum zwischen mir und der düsteren Clubwelt von The Hunger.
Als Zuschauerin wird mir auf viele Arten der Zugang zu den Figuren verwehrt. Die Aufnahmen aus der Distanz von tanzenden Clubgänger*innen, deren Gesichter nur wegen dramatischem Make-Up erkennbar sind, sind aufblitzende Schaumkronen im Meer der Tanzenden, einzeln erleuchtet, aber ebenso schnell wieder verschwunden. Bowie und Deneuve sind von anderen, dunklen Körpern verdeckt, schieben sich durch die Menge und warten über dem Käfig, in dem Murphy mit dem Gitter flirtet. Ihre Gesichter – oder vielmehr ihre Sonnenbrillen – werden durch extreme Close-ups zerstückelt und mir so auch in der trügerischen Nähe der Zugang zu ihnen verwehrt. Die Zerteilung erinnert nahezu an ein Splittern á la male gaze1– nur nicht zur Erzeugung visueller Lust, sondern emotionaler Pseudo-Distanz. Und natürlich ist letztendlich die Sonnenbrille das ultimative Schild vor den sprichwörtlichen Toren zur Seele.
Mit dem Flirt zwischen Bowie, Deneuve und einem tanzenden Paar löst sich der hypnotische Zauber. Nun startet der Film in seine vielschichtige Diskussion von Sexualität, Macht und ewigem Leben. Jäger und Opfer erkennen sich, die Kamera nimmt die Perspektive der alternden Vampire ein. Die Schwelle ist überschritten. Ich beginne, die emotionale Scheindistanz zu überbrücken, obwohl der Film mich mit plötzlichen, zäsurhaften Schnitten vom Umwerben der vier zu Murphys Performance und wieder zurück daran zu hindern sucht. Mit diesem Staccato endet die Clubszene.
Diese Szene trifft einen besonderen Nerv für mich, auch wenn ich Vampirfilme allgemein gerne mag. Natürlich sind die kreative Beleuchtung, die Kameraarbeit, die mise en scène und die Musik Teile davon, verstärken aber lediglich, was bereits vorhanden ist. Das Setting im Club ist es auch nicht, denn andere Clubszenen in Vampirfilmen sinken nicht auf diese Art ihre Zähne in mein Bewusstsein und nehmen mich in sich auf. Blade (1998, R. Stephen Norrington) beginnt schließlich ebenfalls mit einer tanzenden Menge, unter die sich Vampire mischen (oder die vollständig aus diesen besteht). Die Aufnahmen von einer wogenden Masse, alle Arme gemeinschaftlich erhoben, vor und zurück schwappend im dröhnenden Bass, die Bewegung der Anwesenden um den angeschleppten Menschen wie von einem Organismus. Die Menge entsteht aus der Versammlung von Einzelnen, die wiederum in die Menge eingehen, eins werden, verbunden sind. Gemeinschaft, Einheit entsteht, wo sie in The Hunger verweigert, oder zumindest abstrahiert wird. Hier verweigern die Anwesenden sich dem Eingang in die Gruppe. Sie sind dort trotz der Anderen, versammelt im Für-sich-sein. Mit Ausnahme von Bowie und Deneuve, die gut versteckt ihr Opfer umbalzen.
Ähnlicher zu dem Gefühl, das The Hunger provoziert, ist hier die eine kurze Szene in Only Lovers Left Alive (2013, R. Jim Jarmusch), in der die Protagonist*innen einen Underground-Club besuchen. Sie sitzen, alle besonnenbrillt, in einer eigenen, abgeschotteten Ecke und beobachten das Geschehen. Allerdings baden sie in gleichmäßigem Licht, unterhalten sich, und sind mir als Zuschauerin seit nahezu einer Stunde bekannt. Ich habe bereits Zugang zu den Figuren gefunden und muss nicht erst herausfinden, dass Peter Murphy nicht der Protagonist des Films ist, wie es bei The Hunger der Fall ist. Es liegt dennoch eine Einsamkeit in der Luft, untermalt von den kratzigen No-Wave-Noise-Tönen des Clubs. Allerdings ist es eine klare (Selbst-)Isolation nur der Vampire, die sich von ‚normalen‘ Clubgänger*innen abheben. Es entsteht kein Paradox, das es zu bewältigen gibt. Im Club der 1980er herrscht hingegen eine Einsamkeit aller, gemeinsames Alleinsein. Alle Clubgänger*innen sind entkoppelt, stehen für sich oder sind nicht erkennbar und verschmelzen mit dem endlosen Hintergrund.
Die Isolation in der Masse der Figuren in The Hungers Eröffnungsszene ist einzigartig, weil sie freiwillig ist. Anders als in bspw. The Witch (2015, R. Robert Eggers) werden die Charaktere nicht von externen Faktoren oder Überzeugungen auseinandergezwungen, obwohl sie Gemeinschaft suchen. Die Clubgänger*innen in The Hunger kommen zusammen, um gemeinsam für sich zu sein, harmonisch isoliert. Eine besondere Art von Intimität entsteht im Zwischenraum der erhellten Körper und ihrer Umgebung. Durch das Für-Sich-Sein bildet sich um jede erleuchtete Figur eine fragile Aura des Intimen zwischen Licht und Dunkelheit. Konterintuitiv zum Rampenlichtgedanken werden sie durch die Lichtkegel nicht auf dem Seziertisch serviert, der Schutzwall um das Intime zurückgeschält, um es den Zuschauer*innen zugänglich und verständlich zu machen. Stattdessen werden durch die Strahler die intimen Blasen lediglich erkennbar, die durchsichtig, wenn auch undurchdringlich sind. Das Beobachten als Zuschauerin ist nicht invasiv oder aneignend. Keine private, intime Sphäre wird durchstoßen durch meinen Blick. In seiner schnellen Unberechenbarkeit ist das Licht Enthüllung und Blickschutz zugleich. Die Intimität, die aus der Beobachtung dieses Für-Sich-Seins und Für-Sich-Tanzens resultiert, wird kühn mit Eyeliner und Lippenstift getragen, der Versammlung zum Trotz. Es entsteht ein fließender Übergang zwischen sichtbar und unsichtbar, hervorgehoben und hintergrundiert. Figuren schweben an der Grenze zwischen allein und gemeinschaftlich versammelt, und für mich als Zuschauerin zwischen (er-)kennbar und anonym. Anders als in Blade ist die Masse kein Hintergrund, gegen die fokussierte Figuren kontrastreich inszeniert werden; die Tanzenden sind gleichwertige Teile einer Menge, in der jede*r für sich ist. Dieses Paradox zieht sich durch die Szene: Versammlung ohne Einigkeit, Intimität liegt in der Luft, und dennoch sind die Figuren nicht zugänglich. Der Schutzwall, die Aura der Intimität, lässt kein Kennenlernen zu, und ermöglicht doch eine einzigartige emotionale Teilhabe an dem Wechselspiel zwischen Distanz und Intimität. Filmisch gut verpackt durch die erhellten, aber weit entfernten Clubgänger*innen, werde ich zwischen teilverborgenen Tanzenden und Maschendraht in die Szene gezogen, aber auf Distanz gehalten.
Die unwirkliche Balance dieses Wechselspiels ist es letztendlich, was mich hypnotisiert. Die Oszillation von Teilhabe und Abweisung, die beiläufige Intimität der Szene, das Karussell aus Barriere und Bewegung, erleuchteten Einzelnen und dunklem Hintergrund. Nähe durch Distanz. Liminal, liminoid – im Schwebezustand.2 Die Gratwanderung zwischen freizeitlichem Zusammentreffen und harmonischer Distanz, gemeinschaftlich und doch allein, anonym und doch erleuchtet, formt den Zwischenraum, in dem ich mich finde. Das scheinbare Paradox der harmonischen Isolation, der abweisenden Intimität, das Aufeinandertreffen von Für-Sich-Sein und Gemeinsam-Sein löst sich im Liminoiden auf. Der Zwischenraum enthüllt verborgene Gemeinschaftlichkeiten und fügt die Anonymität der Figuren, die abweisende Inszenierung, nahtlos an eine liminoid-intimen Seherfahrung an. Ich muss mich nicht identifizieren oder die Figuren (er-)kennen, denn gerade die Distanz, die Schwebe treiben den Sog an, der in fünf Minuten liminoider Audiovisualität kulminiert.
- 1
Mulvey, Laura (1975): Visual Pleasure and Narrative Cinema. In: Screen, 16 Jg., Nr. 3, S. 6–18.
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Victor Turners Konzept des Liminalen bezieht sich auf pre-industrielle gesellschaftliche und soziale Zustände des Umbruchs und Zwischenzustands. Während das Liminale als ritueller oder gesellschaftlicher Schwebezustand unumgänglich ist, sind liminoide Zustände postindustriell, freiwillig und entkoppelt von religiösen Bedeutungen. Sie finden zumeist in Freizeitkontexten statt und sind von kapitalistischem Individualismus geprägt. - Turner, Victor (1974): Liminal to Liminoid, in play, flow and ritual. An essay in comparative symbology. In Rice Institute Pamphlet – Rice University Studies, 60, S. 53—92.