Die unpersönliche Geselligkeit des Kinosaals

Die Kinoerfahrung ist eine der „unpersönlichen Geselligkeit“. Anonyme Seherfahrung findet im Rahmen einer Versammlung statt, die ein Gefühl von Zugehörigkeit erzeugt. Das Kollektiv wird dabei durch den alltäglichen Impuls, sich Versammlungen entziehen zu wollen, allererst ermöglicht.

Oskar Ullrich
Roter Vorhang, der zugezogen ist
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Den Terminus der „unpersönlichen Geselligkeit“ habe ich von der Schriftstellerin und Poetin Monika Rinck gestohlen. Mit diesen zwei Wörtern fasste sie im Rahmen eines Gastvortrages an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, wie ich finde, kurz und treffend, die zentrale Dichotomie des Kinobesuchs zusammen. Seit es projizierte (Bewegt-)Bilder gibt und diese gibt es schon länger als das Kino im engeren Sinne - man denke nur an die Laterna Magica - versammeln sich Menschen, um diese Illusion zu erleben. Im Dunkel des Kinosaals verwandeln sich Individuen und Persönlichkeiten in unpersönliche Schemen und Schatten.

Gesicht einer weinenden Frau im Close-Up, die alleine vor einer Leinwand im Kinosaal sitzt
Still aus EMPIRE OF LIGHT  (GB/USA 2022, Sam Mendes).

Spezifisch der Kinosaal ist so dunkel und durch seine lauten Soundsysteme wie geschaffen, jegliche Kommunikation zwischen den Versammelten zu unterbinden oder zumindest einzuschränken und die Anwesenden zu isolieren. Auch wenn man den oder die Sitznachbarin noch sehen kann, wird es mit der anschwellenden Soundscape immer schwieriger, sie zu verstehen. Und dennoch weckt der Kinosaal, gerade in postpandemischen Zeiten, Sehnsucht nach körperlicher Ko-Präsenz, wahrscheinlich ein nicht minder nostalgischer Impuls, der sich in Diskursen um die Magie eines Raumes, der Gemeinsamkeit und Zugehörigkeit schafft, ausdrückt. „If you are in a movie theater, you can look two people down and they are laughing while you are laughing, or you can look three people down, and they love that song that you love. It is living proof that you are not alone“ -1

Ich erlaube mir zu diesem Zweck ein paar kurze phänomenologische Abschweifungen. Mein letzter Kinobesuch fand an einem Montagmittag um 14:00 im lokalen Multiplex der CineStar Kette statt. Auf dem Programm stand Furiosa: A Mad Max Saga (US, 2024), das lang erwartete Prequel zu George Millers Mad Max: Fury Road (US, 2015). Ein Film, dessen Werbekampagne viszerales Erleben als Teil der ultimativen Filmerfahrung versprach. Außer mir und zwei Freunden, die mich begleiteten, war der Saal 20 Minuten vor Filmstart komplett leer. Wir nahmen in Reihe H genau in der Mitte des Saals Platz. Während die letzten Trailer liefen, betraten zwei Männer, schätzungsweise 25 Jahre alt, den Kinosaal und platzierten sich oberhalb von uns, in Reihe A und B am äußeren Rand der Sitzreihen. Was zunächst nicht ungewöhnlich erschien, gewann erst nachträglich, als ich mir Gedanken über das Thema dieses Essays machte, an Relevanz - und folgende, zugegebenermaßen trivial erscheinende Frage drängte sich mir auf: Warum haben die beiden Männer einen derart großen Abstand auf Kosten einer besseren Sitzposition gesucht? Natürlich ist es vollkommen normal, im Alltag einen gewissen Abstand zwischen sich und anderen (unbekannten) Menschen aufrechtzuerhalten. Hätte sich einer der Männer etwa neben mich gesetzt, wäre ich wie jede andere Person höchst irritiert gewesen. Zumal dieser Impuls mir aus dem Alltag allzu vertraut ist. In Bus oder Bahn setzt sich niemand in ein bereits mit drei Personen gefülltes Vierer-Abteil, solange noch Einzelplätze frei sind. Ein gegenteiliges Handeln würde als invasiv und rundherum merkwürdig gedeutet werden. Kontext ist hier jedoch entscheidend: Der Kinosaal hat eine andere soziale Funktion als etwa der Bus. Der Kinosaal ist ein, so möchte ich es hier bezeichnen, generativer Versammlungsort, denn Menschen suchen ihn auf, um sich mit anderen gemeinsam zu versammeln und einen Film zu schauen. Selbst eine Person, die allein ins Kino geht, tut dies doch mit der Intention, Teil einer Versammlung zu werden. Im Gegensatz ist ein Bus ein degenerativer Versammlungsort. Ja, auch im Bus versammeln sich Menschen, doch ist die Intention des Orts die Auflösung der Versammlung, die er erschafft. Menschen fahren mit dem Bus oder Zug, um auszusteigen, von A nach B zu gelangen. Demgegenüber gehen Menschen nicht ins Kino, um es zu verlassen. In degenerativen und in generativen Versammlungsorten wird Abstand gewahrt, jedoch nur in letzterem sich aktiv der Generierung widersetzt, da ersterer ein solches Widersetzen hinfällig macht, denn der Zweck des Orts besteht nie in der Versammlung selbst.

Der Kinosaal als Ort der geselligen Unpersönlichkeit macht, wie kein anderer generativer Versammlungsort, diesen Spagat zwischen Zugehörigkeit und Entzug (von persönlichen Bezügen) produktiv, um in diesem Spannungsfeld jene Magie zu erzeugen, die Stephen Chbosky in der eingangs zitierten Passage beschreibt. Denn der Ort der gemeinsamen Zugehörigkeit ist kein Mythos. Die Betrachtung der Bilder, sprich die Seherfahrung, mag anonym und Kommunikation unter den Anwesenden eingeschränkt sein. Dennoch ist das, was alle Besucher*innen verbindet, das Gefühl an einer gemeinsamen Erfahrung teilzuhaben. Während der Werbeblöcke und Trailer baut sich Spannung auf, das Publikum wartet und antizipiert das Kommende. Was wird mich erwarten? Ein immersives Filmerlebnis, das mich mitnimmt, fortreißt, sodass ich mein Reflexionsvermögen zur Seite lege und die Eindrücke ungefiltert hereinlasse? Fragen, die mir durch den Kopf schießen, wenn die Lichter ausgehen. Fragen, die vielleicht nicht nur mir durch den Kopf gehen, sondern uns, die wir im Saal sitzen, verbinden, antreiben, umtreiben. Fragen, die eine kollektive antizipative Erfahrung begründen, ohne allerdings Beantwortung zu finden. Vielmehr schweben diese Antworten als Potenzial im Raum umher und warten darauf, nach dem Auflösen der Versammlung, etwa auf dem Nachhause Weg, mit Freunden besprochen zu werden. Im Kinosaal sind wir alle einem versammelten antizipativen Kollektiv zugehörig, ob wir allein Platz nehmen oder nicht. Jene Zugehörigkeit entsteht, obwohl es die Anonymität der Seherfahrung des dunklen und oft lauten Kinosaals ist, welche die eigene Umgebung und das Eingebunden-Sein in jene vergessen lässt. Amplifiziert wird diese Anonymität durch den alltäglichen Impuls, sich Versammlungen eher entziehen als zuordnen zu wollen, wodurch der räumliche Abstand, der nach Möglichkeit zwischen den Menschen aufrechterhalten wird, den Antworten zusätzlich Platz gibt, im Raum zu schweben. Die Zugehörigkeit zum antizipativen Kollektiv des Kinosaals lebt also davon, dass sie nicht offen ausgedrückt werden kann und will. Anders verhält es sich etwa bei einem Konzert oder Sportevent, beides auch generative Versammlungsorte, wo durch gemeinsames Applaudieren und Jubeln der kollektiven Zugehörigkeit aktiv Ausdruck verliehen wird. Im Kinosaal lautstark das eigene Entzücken, Teil eines Kollektivs zu sein, auszudrücken, würde, im Unterschied zu einer Sportveranstaltung, als störend empfunden. Im Kinosaal entsteht Kollektivität und Geselligkeit in erster Linie durch Reduktion der eigenen Expressivität, durch Unterbrechung der Kommunikation mit den Anwesenden, Isolation und Abgrenzung. Menschen versammeln sich, um für die Dauer des Films eine anonyme Erfahrung zu haben, ab- und einzutauchen in die „öffentliche Intimität“,2 wie es die Filmwissenschaftlerin Heide Schlüppman ausdrücken würde. In dieser Abgrenzung besteht das Kollektiv jedoch weiter. Wenn sich der Vorhang wieder schließt, kehrt die Geselligkeit zurück und es wird klar, dass sie als Referenzpunkt immer da war, auch während des Films, wenn auch nicht so expressiv wie bei einer Sportveranstaltung. Um Chboskys Gedanken zu ergänzen: Ich weiß, ich bin im Kino nicht allein, aber ich weiß, dass ich nicht allein bin, weil ich (solange die Lichter aus sind) allein bin.

Großer, dunkler, bis auf drei Zuschauer leerer Kinosaal mit roten Stühlen.
Still aus Goodbye Dragon Inn (TWN 2003, Tsai Ming-liang).

Diese Erfahrung habe ich in gefüllten Kinosälen immer wieder gemacht. Der Film beginnt, das (unzugängliche) antizipative Kollektiv bildet sich heraus und macht so den Reibepunkt mit jener Anonymität wahrnehmbar, der wir uns im Alltag, wie die beiden Männer, zwischen Teilhabe an und Abgrenzung zu einer Versammlung, hingeben wollen. Im Saal, in dem außer den zwei Männern, meinen Freunden und mir niemand saß, wollte sich diese Erfahrung jedoch nicht einstellen. Denn durch die fast komplette Abwesenheit anderer Zuschauer*innen geht der Referenzpunkt der kollektiven Zugehörigkeit zu einer Versammlung verloren, deren Reiz gerade darin besteht, dass sie in Spannung steht zu einer räumlich strukturierten oder auch  alltäglich motivierten Anonymitätserfahrung. An die Stelle eines - der räumlichen Veranlagung des Kinos geschuldeten - Bewusstseins individueller Wahrnehmung inmitten eines Sees antizipativer Kollektivität trat, bereits bevor die Lichter ausgingen, die klare Erkenntnis, dass ich allein war, weil ich tatsächlich allein war. Leere Kinosäle ziehen somit nicht nur die offensichtlich problematischen ökonomischen wie künstlerischen Folgen nach sich, sondern auch das Ende einer einzigartigen Art des Versammelns, die sich selbst der Klassifizierung als Versammlung zu widersetzen scheint. Von der unpersönlichen Geselligkeit des Kinosaals scheint bald nur noch ersteres übrig zu sein.

Literatur:

SCHLÜPMANN, Heide (2002): Öffentliche Intimität – die Theorie im Kino. Frankfurt am Main: Stroemfeld.

STEWART, Sara (2020): 'Why you shouldn’t give up on going to the movies', https://edition.cnn.com/2020/06/05/opinions/amc-movies-closing-what-comes-next-stewart/index.html.

 

  • 1

    Chbosky zit. nach Stewart 2020, o.S.

  • 2

    Vgl. Schlüpmann 2002.