Im Kino als Erfahrungsraum ignoriert die Versammlung das Miteinander der Versammelten. Es kommt eine heterogene Gruppe zusammen, die einzig der Wunsch nach der konkreten Kinoerfahrung verbindet. Der Raum wird sich, ähnlich zu Bus oder Straßenbahn, aus einem notwendigen Zwang heraus geteilt: Die Versammlung, die sich bildet, wird vom Film herbeigerufen (so wie das Transportmittel die Menschen versammelt), ohne dass sich die Menschen intentional versammeln, sprich: eine Versammlung bilden wollen:
“It is testament to my love of going to the cinema that I am willing to put myself through the torture that is seeing a film with other people.” (Rebecca Shaw, Autorin)1
Hierin liegt ein entscheidender Unterschied zum Besuch von Sportveranstaltungen, wo die Versammlung als Teil des interaktiven Erlebens geschätzt und zelebriert wird. Es wird gemeinsam expressiv und lautstark gehofft, gewütet, gefeiert, getrauert. Im Kino ist dies in dieser Form oftmals nicht der Fall. Unterschiedliche Akteure treffen meist in geringer oder ohne Interaktion aufeinander. Ein Austausch, Gespräche oder Interaktionen untereinander sind in Gegenwart des Films, insbesondere in Programm- und Kulturkinos, nicht erwünscht. Zwar mutiert der Kinoraum vor der Vorstellung zu einem Expressionsraum vieler in Form von diversen privaten Interaktionen, was sich oftmals während der Werbung fortsetzt. Der Saal bleibt hier zumeist beleuchtet. Doch sobald sich der Kinoraum verdunkelt, greift die zentrale ungeschriebene Regel des Kinos: Das Projektionsbild und sein Ton haben mit ihrem Start die hoheitliche Expressionsgewalt im Raum. Die Verdunklung des Saals dient nicht nur der Sichtbarkeit oder Hörbarkeit des Films, sondern auch der Eindämmung der Interaktion im Publikum. Das Geschehen vor der Leinwand muss dem Geschehen auf der Leinwand weichen. Parasoziale Publikumsreaktionen auf das Filmbild existieren nach wie vor, dank neuer Tontechnik wie Dolby Atmos gehen sie allerdings meist unter. Wenn andere Besucher:innen auffallen, dann als temporäres Störmoment im Kunstgenuss. Immer wieder weisen sich Publikumsteilnehmer:innen gegenseitig auf diese Regel hin. Das Klingeln des Handys oder laute Nahrungsaufnahme werden mit verachtenden Blicken bestraft oder es wird direkt zum Schweigen aufgefordert: Essen Sie leiser! Ihr Kind ist zu laut! Handy aus! Ruhe bitte! Pscht! Wenn sich der Erfahrungsraum Kino in kleinen Momenten zu einem Raum des individuellen Ausdrucks verwandelt, wird dies als Rücksichtslosigkeit oder Regelverstoß klassifiziert und als solcher abgestraft.
Sprechen mit und vor der Leinwand
Ein Blick in die Vergangenheit auf den Abend des 28. Dezember 1895 zeigt, dass dieses Schweigegebot nicht immer existierte. An diesem kalten Samstag versammelten sich einige Menschen im indischen Saal des Grande Café in Paris. Sie wohnten nichts Geringerem als einer der ersten kommerziellen Filmvorführungen bei. Die Brüder Louis und Auguste Lumière präsentierten insgesamt 10 Filme, die sie mithilfe ihres Cinématographe abspielten. Vieles, was die Rahmung einer Filmvorführung bis heute ausmacht, wurde hier bereits begründet: Ein Filmposter wies auf die Veranstaltung hin, die Besucher:innen mussten jeweils einen Franc zahlen - wer Film schauen möchte, benötigte eine Eintrittskarte. 33 Franc verbuchte der Besitzer des Cafés an diesem Abend für die lediglich 33 Besucher:innen, die an dieser Geburt des Mediums teilnahmen. Circa 48 Sekunden waren die zehn Kurzfilme jeweils lang, nach gerade einmal acht Minuten war das Ereignis schon wieder vorbei, das Rattern des Cinematographe verstummte. Viele Überlieferungen dieser Nacht beschreiben nicht nur das Gezeigte, sondern auch die Reaktionen des Publikums: Die Versammelten, laut miteinander sprechend, staunten über die Versammlungen von Fotografen in Débarquement du Congrès des Photographie à Lyon (FR 1895) und sie lachten über den begossenen Gärtner in L'Arroseur Arrose (FR 1895). Das Publikum begegnete den stummen Werken mit lautstarker Aufwühlung, als wollte es das Schweigen der Bilder mit einer emotionsgeladenen Tonspur ergänzen. Essen Sie leiser? Ruhe bitte? Keine Spur von derartigen Benimmregeln. Gemäß dem unbelegten Mythos erschraken einige anwesende Personen bei L’Arivée d'un Train en Gare de la Ciotat (FR 1895) über den heranfahrenden Zug derartig, dass sie von ihren Sitzen aufsprangen. In Hugo (Hugo Cabret, USA 2011) wird diese Legende reproduziert. Doch weil es eben derartig lebendig, wild und impulsiv während diesen ersten Vorführungen zuging, war eine derartige Immersion wahrscheinlich kaum möglich. Laut war es vor der Leinwand, lautlos das Filmbild, launig das Publikum.
Schreien gegen die Leinwand
Während dieser acht Minuten begab sich das Publikum in eine parasoziale Interaktion ohne einen lebendigen Empfänger. Die Leinwand oder der Film selbst konnten keine Reaktion zeigen, die Emotionen des Publikums aufnehmen, sich gegen sie wehren. Sie sind diesen Handlungen der sie betrachtenden Akteure während der kinematischen Existenz schutzlos ausgeliefert. Der Film reagiert auf derartige Reaktionen mit Gleichgültigkeit, agiert einzig als Objekt der Betrachtung. Und doch finden sich auch heutzutage finden sich immer wieder Vorfälle, wo mit der Ausdrucksmacht des Films im Kinoraum gebrochen wird, in denen die Expression von Zuschauer:innen die Kontrolle übernimmt. So beispielsweise bei neueren Screenings von The Rocky Horror Picture Show (USA 1975): Im Zuge der Entwicklung des Musicalfilms zum popkulturellen Kult erwuchs hier eine Tradition, bei der Zuschauerpartizipation nicht unterbunden, sondern erwünscht ist und gefördert wird. Zu bestimmten Szenen werden Hüte und Handschuhe aufgesetzt, Reis und Konfetti fliegen durch den Saal. Das Kino wird zum kollektiven Interaktionsraum einer gesteuerten Erfahrung. Das Konfetti darf nur zur Schlafzimmerszene geworfen werden, Wasser aus Wasserpistolen nur während intradiegetischem Regen verschossen werden. Die Benimmregeln des Kinos werden hier nicht gebrochen, sie werden kontrolliert ausgesetzt. Außer Kontrolle hingegen gerieten mehrere Vorstellungen des Boxfilms Creed III (Creed III: Rockys Legacy, USA 2023), der von Tumulten im Kinosaal geprägt war. Insbesondere in Frankreich und Deutschland verprügelten sich Jugendliche sich im Kinosaal untereinander, bewarfen sich mit Snacks, Getränken oder zerlegten gleich das gesamte Mobiliar. Faust gegen Faust, Popcorn und Cola gegen die Leinwand. Der Kinoraum wurde zum Raum einer expressiven Gewalt. Er wurde Schauplatz eines Wütens gegen den Schauplatz selbst. Das Filmerlebnis wurde in seinem Thema nacherlebt, imitiert, gleichzeitig verlor es auf Kosten dieser Nachstellungen seine Ausdrucksmacht. Es war keine Imitation aus Ehrfurcht vor dem Vorbild, der Film diente lediglich als Aufhänger für die Kämpfe im Saal. Zuschauer:innen wurden gestört, Vorstellungen wie in Bremen wurden abgebrochen:
Was man an diesem Phänomen erleben kann, ist, dass viele Leute offenbar nicht mehr in der Lage sind […], sich im öffentlichen Raum korrekt zu verhalten.“ (Wolfgang M. Schmitt, Filmkritiker)2
Neben diesen Kritiken zur gesellschaftlichen Verrohrung wurde die Plattform TikTok schnell für schuldig befunden. Es folgten Verbotsdebatten, doch die Existenz einer plattformtypischen Challenge konnte nicht nachgewiesen werden. Auch wenn derartige Gewaltausbrüche verwundern und erschrecken, sind sie gleichwohl kein Novum in der Kinogeschichte. Hier lohnt sich ein weiterer Blick in die Vergangenheit: Bereits 1915, 20 Jahre nach der ersten kommerziellen Kinovorführung, wird sich in einer Ausgabe des „Kinomatograph“ über „Rüpeleien halbwüchsiger Burschen“ oder „Rowdys“3 während Filmvorstellungen beschwert. Filmemacher Quentin Tarantino beschreibt einen Kinobesuch von Dirty Harry (USA 1971) in den 1970ern, bei dem das Kinopublikum den Antagonisten Scorpio lautstark dazu aufrief, zwei homosexuelle Männer, die dieser mit einem Snipergewehr visiert, zu erschießen. Zwar verhinderte ein in die Filmhandlung eingreifender Polizeihelikopter die Morde auf der Leinwand, dies wurde allerdings vom homophoben Publikum mit Missgunst quittiert. Die gezeigte filmische Realität erhielt eine Abfuhr. Beide Beispiele zeigen: Destruktives Verhalten des Publikums untereinander oder parasozial gegen die filmische Realität ist so alt wie das Kino selbst. Vielleicht sind all diese Formen der Expression im Kinoraum, geplant kollektiv oder radikal destruktiv, symptomatisch für einen Frust: Sie bilden eine Reaktion aus der Ohnmacht heraus, dass Zuschauer:innen den filmischen Raum nicht beeinflussen zu können. Es ist dem Publikum oftmals nicht einmal gestattet, mittels Applaus Anerkennung oder Ablehnung zum Ausdruck zu bringen. Die filmische Realität muss akzeptiert werden, obwohl sie abgelehnt wird. Es kann aus ihr heraustreten, wütend der Kinosaal verlassen werden, doch sie erfährt niemals eine Veränderung. Die meisten Besucher:innen ordnen sich diesen Benimmregeln des Kinoraums unter, andere halten sie erst nach mehrfacher Aufforderung ein. Wieder andere reagieren radikaler: Sie denunzieren das Filmbild, nutzen es als Aufhänger für einen gewalttätigen Ausdruck oder sind von ihm so beeindruckt, dass sie es und seine Thesen in die außerfilmische Realität tragen wollen. Gleichwohl wird für diese radikalen Reaktionen ein Publikum benötigt, denn nur durch seine Anwesenheit erwachen auch die Regeln zum Leben. Das Publikum schlüpft in die Rolle des Regelwächters, einzelne Abweichler werden ungeniert sanktioniert. Bei kollektiver Einmütigkeit im Publikum entstehen wiederum neue Regeln, wie z.B. eine skandierende Missgunst gegen das Projektionsbild bei Dirty Harry. Für alle genannten Beispiele finden sich keine nennenswerten Pendants aus dem Bereich des Heimkinos. Film wird im und um das Kino im Vergleich zur filmischen Individualerfahrung different wahrgenommen. Im Kinosaal kann dieser Frust über die eigene Unmündigkeit einem Publikum entgegengeworfen werden, in der Hoffnung, dass dieses eine Erwiderung oder Validierung zeigt. Das Schweigegelübde mag da und dort die minimalen Regungen unter Kontrolle zu bringen, woanders aber führt es zu Dammbrüchen und radikalen Ausbrüchen. Mit dem öffentlichen Raum Kino und seinen Regeln zu brechen wird so zur Mutprobe. Film und sein Publikum im Kinoraum befinden sich in einem Spannungsfeld, das von Regeln und Regelbrüchen gezeichnet ist. Es liegt also an uns, dem Publikum, den Kinoraum zu gestalten.