Das Bild ist kadriert. Auf der Leinwand, auf dem Bildschirm, auf dem Smartphone, auf der Netzhaut. Doch wo kommt die Kadrierung her? Wenn sie dort zu lokalisieren ist, was gemeinhin als Blick bezeichnet wird, so ist sie auch in diesem bereits gegeben. Der Blick kadriert den Blick. Ähnlich wie zwei gegenübergestellte Spiegel, von Angesicht zu Angesicht,1 wie Paulus den Korinthern sagt oder ein Ingmar Bergman Film heißt. Seien es Blicke in einer christlichen Missionarsbotschaft oder eines Regisseurs, der ihr Konfliktpotenzial kennt. In beiden Fällen geht es um die Reflexion des Selbst in etwas anderem. Und wenn man dies auf die Spitze treibt, ist davon auszugehen, dass alles ein Spiegel ist. Alles reflektiert. Und was reflektiert, blendet, verletzt, durchbohrt, glitzert, wird beachtet, ignoriert, bewundert, genossen, gehasst, verehrt, herausgefordert, gemieden. Im Film wird versucht, Reflektierendes zu bändigen als auch freizusetzen. Die Kadrierung des Bildes selbst ist aber dennoch gegeben.
Wenn es heute noch Grenzen gibt, die das Medium Film nicht überwunden hat, dann wohl jene, die seinen eigenen Bildausschnitt begrenzen. Nun, in IMAX-Kinos ist es durchaus so, dass der Blick selbst umherschweifen muss und mitunter selbst zu wählen hat, welchem Bereich der Leinwand er sich zuwenden mag. Aber jene Auswahl der Bildinhalte ist auch wiederum beschränkt auf den zusammengenommenen größeren Bildinhalt. Und 360-Grad Videos entgrenzen den Blick zwar horizontal und vertikal, doch ist auch hier nur ein Bildausschnitt zu einer bestimmten Zeit einnehmbar. Man käme sich lediglich vor wie eine Eule, die mit ihren 14 Halswirbeln etwas flexibler den Kopf dreht. Vielleicht braucht man mehr Augen, wie eine achtäugige Spinne. Man könnte 360-Grad Aufnahmen aufklappen, die dann, ähnlich dem Rohschnitt eines zusammenklappbaren Würfels, vor sich platziert werden können, sodass man das Ganze sieht. Aus geometrischer Sicht könnte man bestimmt sagen, nun alle Perspektiven vor sich zu haben. Aber fehlt nicht etwas?
Mit Thomas Nagel ließe sich bekanntlich über die Frage hinausgehen, wie es für einen Menschen ist, eine Fledermaus, Eule oder Spinne zu sein, um stattdessen zu fragen, wie es für jene ist, eben solche zu sein.2 Aber betrachtet man den Blick als das Scheitern daran, die andere Perspektive für den eigenen Wissensdurst oder Erfahrungswert zu bemächtigen, wird auch schon immer die komplett eigene Singularität eines solch anderen Blicks vorausgesetzt. Löst man sich einmal von diesem Gedanken, so ist die Setzung eines anderen Blicks vielleicht nichts anderes als die eigens hervorgerufene Selbstbegrenzung. Doch bestimmte Blicke und Perspektiven prägen noch immer Alltagssprache und Umgang. Wenn man also von ihrer Beständigkeit weiterhin ausgeht, zugleich jedoch an dieser zweifelt, so könnte man nach jenen Orten fragen, an denen sich die (vermeintlichen) Perspektiven überschneiden.
Doch wo finden sich solche Orte? Ist der Begriff des Ortes mit seinem lokalisierenden Anspruch überhaupt hinreichend, um Blicküberschneidungen aufzuspüren? Und inwiefern spielt im Sinne von Raum und Zeit gerade letztere eine Rolle? Leute, die an Genderdysphorie leiden, eine Transition durchführen oder durchgeführt haben, vollziehen den Perspektivwechsel bereits von vornherein und sind nicht an ein bestimmtes Ereignis angewiesen, das ihre Identität verifiziert, sei es durch ein medizinisches Gutachten oder ein bestimmtes Pronomen. Es scheint also immer auch von Anfang an ein Anspruch vorhanden zu sein, der unmittelbar an die Vorstellung von Überschneidungen verschiedener Perspektiven gekoppelt ist. Jene zeigen sich mitunter durch das Auslösen von Schamgefühlen, denke man an Derrida, der seinen entblößten Körper zufällig den Blicken seiner Katze aussetzte.3 Oder man denke an die Figur des Robert de la Chesnaye (Marcel Dalio) aus Jean Renoirs La règle du jeu (Die Spielregel, FR 1939), dem leidenschaftlichen Sammler von Musikinstrumenten, der vor Scham errötet, als er dem Publikum sein Orchestrion enthüllt. Bestimmte Blicke werden also vorausgesetzt, wenngleich ihnen Dichotomien wie Mensch und Tier oder Körper und Umwelt scheinbar fremd sind.
Und dennoch persistiert ein Bestreben, Blicke als abgeschlossen gegen andere auszuspielen. Politische und gesellschaftliche Implikationen sind an dieser Stelle wohl selbstredend. Vielleicht aber wird auch dies von einem Begehren begleitet, was nicht nur ideologisch ist. Ist nicht gerade in der unbewussten Aufrechterhaltung der Begrenztheit der eigenen Perspektive die hoffnungsvolle Erwartung inbegriffen, mit einer Durchkreuzung des eigenen Blicks zu einer Art Selbstfindung zu gelangen? Viele scheinen sich schwer zu tun, dies in Betracht zu ziehen, fällt es für sie doch vorteilhaft aus. Und tritt nicht gerade aufgrund der Möglichkeit der Negierung des eigenen Blicks die Form erst in Erscheinung, ähnlich dem hegelianischen Wechselverhältnis zwischen reinem Sein und reinem Nichts, deren Bestimmtheiten nur durch das je Entgegengesetzte ihre Form erhalten? Der sich selbst begrenzende Blick übt damit vielleicht nicht mehr jene Schutzfunktion aus, die er zu beabsichtigen vorgibt, wohingegen Strategien diverser Medienformate genau auf jene Maßnahme abzielen, indem sie stets das wiederholen, was bestimmten Idealbildern entspricht. Sie leugnen dabei, dass der sich selbst begrenzende Blick sich vielleicht gerade deshalb so sehr abschirmt, weil ihm die Möglichkeit der zufälligen Begegnung unerwarteter Bilder durchaus bewusst ist. Die Tilgung dieser scheint das Dogma aller kunstfeindlichen Medienformate zu sein. Der Blick weiß (und akzeptiert) durchaus das, was er nicht imstande ist zu sehen. Warum also ihn in Fesseln halten?
Wie ließe sich der Blick befreien? Man müsste ihn ins unabsehbare Chaos der gegebenen Umwelt entlassen, damit die mühselige Aufrechterhaltung einer eigens imaginierten Vollständigkeit, gemäß bestimmter Idealbilder, endlich hinfällig wird. Aber wird nach dieser Auffassung nicht wiederum der Zufall mystifiziert? Die Kontingenz erhält die Verehrung, welche zu ihrer eigenen begrifflichen Aufhebung führt. Zu leiden hat darunter selbstverständlich der selbsternannte befreite Blick und wieder stehen sich zwei Spiegel gegenüber. Wieder versperrt das unendliche Bild im Bild den Zugang zum vermeintlichen eigentlichen Bild. Zu sehen ist nur sein Rahmen (oder Käfig?) in endloser Abfertigung. Die Einsicht dieser zirkulären Bewegung lässt sich vielleicht lediglich durch den Idealismus rechtfertigen, dem Erkenntnisziel einen Schritt näher gekommen zu sein, dem absoluten Wissen oder wie auch immer man es nennen mag.
Wenn die Suche nach Gewissheit außerhalb der Blicke vergebens zu sein scheint, muss deren Befreiung vielleicht innerhalb von ihnen stattfinden. Es gibt in der Filmwissenschaft ständig Versuche, das Kontingente, Unbestimmbare und Nichtidentische zu behaupten, Stereotype zu überwinden und Blicke ihrerseits auf frischer Tat blickvoll zu ertappen und zu dekonstruieren, um sie alsdann vorzuführen. Aber wie sieht der nächste Schritt aus? Wurde nicht eben deutlich, wie fragil all die Vorannahmen sind, die Ausgrenzungen zu rechtfertigen versuchen? Und wenn dem so wäre, wo sind dann die befreiten Bilder? Gänzlich entfesseln lassen sie sich vermutlich nicht, wenngleich auch klar wurde, dass die Grenzen in Wirklichkeit vielleicht keine solchen sind. Ist man konsequent, so ist die Idee durchlässiger Grenzen vielleicht gar nichts für den Film. Dieser besteht auf seine Rahmung, den vier Bildkanten und muss unentwegt seine Motive selbst wählen, was so manche Filmemacher:innen zur Verzweiflung bringt. Welch widersprüchliches Medium! Nicht nur jeder Schnitt ist eine Lüge, auch schon das Bild selbst!
Ulrich Seidl hat mal in einem Interview gesagt, dass er selbst nicht weniger voyeuristisch veranlagt ist, als die Personen, die er in seinen Filmen zeigt.4 Und Gilles Deleuze hat dargelegt, dass jeder schweifende Blick sich immer an bestimmten Details festhängt.5 Die Pupille bewegt sich stockend und nicht gleichmäßig, nichts anderes kann der Kameraschwenk behaupten. Jegliche Objektifizierung geht dem Blick voraus und die daraus verspürte Scham gleicht der Erkenntnis Ödipus. Weg mit den Augen! Der Blick ist ein Auslaufmodell. Wo bleibt der alles umwälzende Kapitalismus, der uns mit dem neuen Modell beglückt? Warum verdampft der Blick nicht wie alles andere, was ständisch und stehend ist? Stattdessen gibt es nur Erweiterungen des Blicks. Endlich lässt sich Werbung schauen, die auf die eigenen Interessen zugeschnitten ist. Wenn man sich ausbeuten lässt, dann doch bitte nur unter Preisgabe des eigenen Körpers.
Dies zeigt vielleicht, wie verhängnisvoll es ist, den eigenen Blick abzulegen. Sich aus der Verantwortung ziehen bedeutet Verantwortungslosigkeit. Aber lebt man daher in einer Welt von Blicken, die aufgrund geleugneter Besitzansprüche nun verstreut herumliegen? Wenn ja, dann bestünde die Interaktion mit ihnen ähnlich der Vorstellung von rosa Brillen, die sich auf- und abnehmen lassen. Allerdings sind rosa Brillen lediglich Filter, die über einen bereits vorhandenen Blick hinwegtäuschen. Herumliegende Blicke wären daher nur Kopien bereits vorhandener. Oder Kopien von Kopien. Spuren von Spuren. So oder So. Der infinite Regress des Blickes ist vielleicht unvermeidlich. Und dennoch ist er da, der glance at the nose. Und sie sind vielfältig. Wenn sie daher in der Menge sich stets gegenseitig kadrieren, einschließen, objektifizieren, ausstellen, angreifen, so ist ihre Existenz zugleich darauf angewiesen, durch jene Gegenseitigkeit überhaupt erst bestätigt zu werden. Kurzum, Blicke überleben nur in der Zusammenkunft, im Aufeinandertreffen. Wo Blicke sich treffen, sind sie im Entstehen. Zustande kommen sie so erwartet wie unerwartet. Ihre Begegnung ist nirgends und überall, ihr Spektrum durch sie selbst begrenzt. So kann man vielleicht froh sein, zu wissen, dass der Blick zwar überall, aber zugleich so angenehm blind ist.
- 1
Vgl. 1. Korinther 13,12
- 2
Nagel, Thomas (1974): 'What Is It Like to Be a Bat?' In: The Philosophical Review, Vol. 83, No. 4, pp. 435-450.
- 3
Derrida, Jacques (2010): Das Tier, das ich also bin. Paris: Éditions Galilée [2006].
- 4
SWR (14.06.2015): Ulrich Seidl: Die Faszination des Hässlichen | SWR1 Leute. https://www.youtube.com/watch?v=zEj_wiawd9k (28.07.2024)
- 5
Deleuze, Gilles (1992): Differenz und Wiederholung. Paris: Presses Universitaires de France [1968].