Wir befinden uns mitten in der Revolution, im Auflehnen des Volkes gegen das Regime. Friede den Distrikten, Krieg dem Kapitol! Vorne mit dabei, als Symbol der Revolution: Katniss Everdeen (Jennifer Lawrence). In einem Propagandavideo (Propo) ruft sie in Form des Liedes „The Hanging Tree“ zur Versammlung auf. Das Lied wird zum Auslöser einer Welle von Revolutionär*innen, die auf einen Damm zurollt, der das Kapitol mit Strom versorgt. Als dritter Film in der Hunger Games Reihe greift Mockingjay Part 1 die in den ersten zwei Filmen brodelnden Unruhen einer dystopischen Nation auf, die kurz vor der Revolution steht, mit der Protagonistin Katniss als Inspirationsfigur. Die zwei Seiten des Konflikts, Pro-Regime und Revolutionär*innen, versuchen, mithilfe von Propaganda weitere Verbündete zu gewinnen - Propagandavideos wie das hier diskutierte, in dem Katniss dabei zu sehen ist, wie sie mit Pfeil und Bogen durch einen Wald läuft. Wobei weniger das Video, sondern das, was dieses Video auslöst, Thema ist:
Schon allein wegen dieser Szene lohnt es, den Film zu schauen. Ich meine die Reaktionen der Menschen auf das gezeigte Propagandavideo. Menschen versammeln sich, wie Katniss in ihrem Propo gefordert hat – nicht vor einem Baum, aber vor einem Damm. Gemeinsam singen sie "The Hanging Tree", bewegen sich auf den Damm zu. Wie eine Flut gehen sie voran – langsam, bedächtig, aber mit einer Macht und der Gewissheit, dass sie unaufhaltbar sind. Die revolutionäre Flut wird kommen. Sie wissen das. Die Zuschauenden wissen das mit ihnen. Selbst die Friedenswächter, die Soldaten des Regimes, wissen das, während sie am Damm Stellung nehmen. Um sie herum kündigt sich bereits die drohende Flut an – die Wassermassen, die hinter ihnen fließen, der Dunst, der auf ihren Helmen landet. Man kann nur ahnen, was sie sich gerade denken. Aus Tropfen werden Wellen, wird Meer. So hat Elias Canetti das Phänomen des Meeres - als Massensymbol beschrieben. "Die Tropfen zählen erst wieder, wenn man sie nicht mehr zählen kann, wenn sie im großen und im ganzen wieder aufgegangen sind."1
Die Menschenwellen, eine nach der anderen, werden niedergeschossen. Die Wellen brechen, als die Menschen zusammenbrechen. Doch sie kommen kontinuierlich und beharrlich nach. Der Masse gehen die Menschen nicht aus, den Wachen die Munition aber früher oder später schon. Die Friedenswächter versuchen, die Massen auf strategische Weise zu besiegen – durch gut postierte Wachen, die in Paaren auf der Brücke und über ihnen stehen. Sie haben die höher gelegene, die strategisch gute, die perfekte Position, um die revoltierenden Menschen von oben herab niederzuschlagen, niederzuschießen. Doch die Menschen haben nichts mehr zu verlieren. Es könnten Dutzende, Hunderte, gar Tausende niedergeschossen werden. Es wäre nur noch mehr Ansporn, den Damm und die Wächter zu stürmen. Krieg dem Kapitol! Anstatt aus tosenden Wassermassen besteht die Welle, gegen die die Friedenswächter ankämpfen, aus einer tobenden, nach Menschenmenge, die nur nach vorne prescht.
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Wie Wasserteilchen einer Welle bilden die revoltierenden Menschen eine feste, gemeinsame Oberfläche. Nur wenn die Welle bricht, sind sie kein Teil der Masse mehr. Doch auch dann sind die Menschen längst keine Individuen: Sie werden Teil einer anderen Masse, eine Masse der Toten und des Stillstands, wie Reste, die an den Strand gespült werden und nun reglos dort herumliegen. Die Friedenswächter dagegen sind und bleiben Individuen: Wenn der eine fällt, nimmt keiner seinen Platz ein. Während die Masse bereits die Welle ist, sind die Friedenswächter nur die Tropfen: einzeln, isoliert, schwach.
Ein Friedenswächter wird überrannt, dann der andere. Die Revolutionär*innen fluten den Damm. Sie legen Bomben ab, der Damm wird gesprengt, der Fluss wird frei, und die Wassermassen nehmen die Leichenmassen mit, nehmen sie ein. Dabei werden sowohl die Leichen der Revolutionäre als auch der Friedenswächter mit der Strömung mitgenommen: Noch als Tote formieren die Revolutionär*innen eine Welle - und die Friedenswächter werden ein- und mitgenommen. Im Tod sind sie alle eins.

Dahingehend gleicht die Menschenwelle der Welle als Naturgewalt. Der Welle ist es egal, welche Dämme sie bricht, ob sie Befreiung oder Zerstörung bringt. Das ist das Faszinierende - auch das Gefährliche - an der Welle beziehungsweise der Masse. Vergessen wir nicht: Auslöser waren kleine Funken. Die Ironie dieses Versammelns um eine inspirierende Figur bleibt nicht vergessen. Im Unterschied zu Wasserwellen können Menschenwellen also politisch (mitiviert) sein. Der Film führt uns die Wellen in ihren politischen Ambivalenzen vor Augen: Die Masse ist stark und soll für Solidarität, für Gleichheit stehen, und dennoch schart sie sich um Wenige. In Mockingjay (USA, 2014, Francis Lawrence) wird Katniss interessanterweise nur als Auslöser der Revolution gezeichnet, nicht als Teil von ihr. Genauso wie die Wellen einen Auslöser haben – sei es der Wind, ein Sturm, die Plattentektonik etc. –, dessen Beschaffenheit aber ultimativ für die Welle keine Rolle spielt. Wenn Katniss im Propo durch den Wald läuft, tut sie dies allein. Erst die Konsequenz ist die wahre Gewalt der Massen. An die Stelle des Führers tritt ein propagiertes Ziel.
Interessant ist dabei, dass im Film die Revolution meist in Form von Feuer symbolisiert wird. Nicht umsonst wird Katniss als „Mädchen, das in Flammen steht“, bezeichnet - und auch in den Propos so inszeniert. Durch feurige Effekte und explosive Pfeile wird der Kampf gegen das Kapitol dargestellt. Ein Feuer, das Altes verbrennt und zerstört, damit Neues sich erheben kann. Deswegen ist die besprochene Szene einzigartig, weil hier nicht mit Feuer, sondern mit Wasser gekämpft wird. Zwar brechen sich die Menschenmassen wie Wassermassen am Damm - doch sie schaffen es, diesen auch zu überrollen. Dieses 'Überrollen' ist nicht nur als Aktion, sondern auch als Metapher für die Revolution, da das lateinische Wort revolutio so viel wie „zurückdrehen, zurückwalzen“ bedeutet. Interessant ist dabei aber auch die Bewegung zurück. Wenn wie die Welle nach ihrem Bersten zum Wasser zurückkehrt, könnte man meinen, dass die Revolutionär*innen weg von der totalitären Ordnung des Kapitols und zu einer friedlichen Ordnung zurückkehren wollen, einen Kreisschluss bildend. Die Aktion ist sogar doppelt passend, denn durch eine kreisförmige Bewegung der Wasserteilchen, bei der die Energie von einem Teilchen zum nächsten übertragen wird, erhalten die Wellen erst ihre Energie2. Die Menschenmassen rauben dem Kapitol ihre Wassermassen, beziehungsweise befreien sie. Sie entnehmen dem Kapitol ihre Macht über Wasser- und Menschenmassen. Passend dazu folgt die Einstellung eines Brunnens im Kapitol, welcher gerade noch hohe Fontänen sprüht, und nun lediglich ein ruhiger Teich ist.
Der Damm, der das Wasser abgesperrt und kontrolliert hat, das Gefängnis, welches die Massen zuvor eingeschlossen hat, ist nun zerstört. Der Fluss ist frei und überflutet das, was einmal der Damm gewesen war, während die Revolutionär*innen sich aus der Kette des Kapitols ein Stück weit befreit haben.
Auch wenn ich weiß, dass die Szene von einem innerdiegetischen Propagandavideo ausgelöst wird, funktioniert sie doch sehr gut. Sie lässt mich nicht kalt. Trotz dieses Wissens also sehe ich mir dabei zu, wie ich mitsingen, mitrufen mitlaufen möchte. Und das ist angsteinflößend, gibt mir zu denken. Wie von einer Welle werde ich mitgerissen. Und das, obwohl ich weiß, dass es inszeniert ist. Die Reflexion lässt mich glauben, eine Wahl und die Kontrolle zu haben. Doch wenn es dennoch funktioniert - dann verschwindet die Illusion von Kontrolle und Rechtfertigung. Es bleibt allerdings mein Wissen, dass die Massen nicht von ihren Bildern ablösbar sind. Wie zeigen sich uns Versammlungen im Kino? In verschiedensten Erscheinungsformen. Die Wirkung der Welle und dass ich von ihr mitgerissen werde - wenn auch nur für kurze Zeit – ist auch eine Wirkung der Art und Weise, wie diese Welle gezeigt, inszeniert, erfahrbar und reflexiv gemacht - also: gebrochen wird.
Literaturverzeichnis:
- Canetti, Elias (2001): Masse und Macht. Hamburg [1960].
- Kamp, Irene (o.A.): Warum laufen Wellen immer parallel zum Ufer? https://www.weltderphysik.de/thema/hinter-den-dingen/wellenrichtung/, zit. nach ZDF/Terra X plus/Bilderfest/Tillman Graach/Sabine Bussman/Dirk Hagen/Phillip Becker, Maximilian Mohr (2023): Wie entsteht eine Welle? https://terraxplaincommons.zdf.de/video/wie-entsteht-eine-welle-creative-commons-clip-100.