Zwischen Himmel und Hölle liegt ______________

Eine Reflexion über neun Monate lernen, wütend sein, versammeln und dokumentieren im Angesicht des Krieges in Gaza.

Marie Frei
Ausblick aus einem Flugzeug, das über eine Stadt fliegt
Der Blick aus dem Flugzeug über San Diego © Marie Frei

Im Oktober regnet es in Gaza Bomben vom Himmel. In Kalifornien, wo ich Urlaub mache, strahlt die Sonne, Kolibris schwirren durch die Luft.
Nachrichten kommen nur verzögert an – die Tage sind voll, das Handy ist nebensächlich, der Jetlag ermüdend. Auf dem Campus der San Diego State University schnappe ich das Telefonat einer jüdischen Lehrkraft auf. Sie berichtet vom Ausnahmezustand und dem Zusammenhalt in ihrer Gemeinde. Ob ich diesen Gesprächsfetzen auch an meiner Uni mitbekommen würde? Ich frage mich, warum jüdisches Leben in Deutschland so unsichtbar ist, oder ob das nur mir so geht. Meine Ignoranz klopft an. In der Schule wird jahrelang die Shoah behandelt und „Nie wieder“ ist leicht gesagt, aber Berührungspunkte mit Juden und Jüdinnen bleiben größtenteils abstrakt – Gedenkfeiern/Museumsbesuche/Spiel- und Dokumentarfilme/Interviews/Synagogenbesichtigungen/Exil-Lektüren/Hollywood Late Night Shows.

        - Bin ich das Problem?

       -  Sicherlich ein Teil davon.

Ich empfinde Betroffenheit über den 7. Oktober, so wie ich das beispielsweise bei den Überschwemmungen im Ahrtal, der Kippung von Roe v. Wade in den USA oder dem Einmarsch Russlands in die Ukraine tat: mit wechselnder Intensität. Tagesformabhängig. Oft wirkt es, als sei nur eine schlechte Nachricht eine Nachricht und davon sammeln sich so viele an, dass sich ein nachhaltiges Mitfühlen erst mit den Bildern und Artikeln abseits der Schlagzeilen entfalten kann, sobald einzelne Schicksale greifbar werden. Wenn Aufmerksamkeitsökonomie zu selektiver Empathieökonomie wird, ist die Frage danach, wem in welcher Form Beachtung geschenkt wird, plötzlich essenziell.

     -  Merk dir diesen Gedanken!

Die Situation im Gazastreifen verschlimmert sich, die Todeszahlen steigen und scheinen durch nichts gebremst zu werden. Es fühlt sich nicht richtig an, Urlaubsfotos zu teilen, wenn so viele Menschen sterben, die meisten davon Frauen und Kinder.

   - Andererseits … herrscht nicht immer irgendwo Krieg und Zerstörung? 

   - Fühlst du dich schon unwohl? 

   - Sehr sogar.

   - Warte noch ein paar Wochen. Du wirst dich manchmal selbst verabscheuen, während du diese Zeilen tippst.

   - Danke für den Privilegiencheck.

Zwischen Sonnenuntergängen am Strand und Nationalparkbesuchen lässt sich das (noch) vetagen. Etwa bis Ende Oktober, als der Urlaub vorbei ist. Der ehrfürchtige Blick aus dem Flugzeug: Wie klein die Welt von oben wirkt. Als wären die Autos nur Spielzeuge, die Häuser und der glitzernde Ozean ein unendlicher Spielteppich (Gottes?). „Wo fängt der Himmel an?“, schreibe ich in meine Notiz-App. „Leben wir in der Hölle?“, fragt sich etwas in mir, angesichts der knapp 3000 getöteten Kinder.

   - Irgendwo dazwischen …

Im Dezember blicke ich nach oben und wünsche mir weiße Weihnachten, aber mehr noch: Frieden. In einer Kirche hängt ein Fragebogen des SZ-Magazins aus: „Welches Gefühl löst das Wort Jude in Ihnen aus? 79 Fragen von Jüdinnen und Juden – eine Einladung zur Selbstbefragung.“ Auf vieles habe ich keine Antwort.

   - Oder hoffnungsvoller: Raum zu lernen.

Januar: Neuanfang. Leise lernen: über diesen komplizierten Nahostkonflikt; die deutsche Staatsraison; den Internationalen Gerichtshof, vor dem Südafrika Israel verklagt; die Nakba; über Demonstrationsverbote und eine scheinbar allgegenwärtige Angst.

   - Das ist nicht genug.  

   - Ich weiß.

Im Februar wird gefeiert, Konfetti wirbelt durch die Luft – in anderen Jahren würde ich vielleicht lapidar sagen, dass die Straßen nach Fastnachtsumzügen aussehen wie ein Schlachtfeld, doch das scheint mir geschmacklos. Die deutsche Leitkultur fließt hochprozentig durch die Adern der Verkleideten, während aus Gaza Bilder von unterernährten Kindern kommen und aufgrund unbelegter Anschuldigungen Israels gegen 12 der 13.000 Mitarbeitenden des Palästinenser:innenhilfswerks UNRWA viele Länder ihre finanzielle Unterstützung und damit die Finanzierung von dringend benötigter Hilfe einstellen. Teile der israelischen Zivilbevölkerung protestieren gegen die Regierung, denn die Bomben fallen auch auf die israelischen Geiseln. Wem gilt eigentlich diese deutsche Solidarität? Ist sie noch solidarisch, wenn sie selektiv ist? Permanente Waffenruhe und Selbstverteidigungsrecht scheinen unvereinbar. Kein Deal.

   - Sind das die Gleichzeitigkeiten, die wir aushalten müssen?

   - Aushalten? Ja. Akzeptieren? Nein.

Außerdem regnet es Feuerwerkskörper und Tränengas auf Protestcamps an amerikanischen Universitäten. Die Polizei geht gewaltsam gegen die versammelten Protestierenden vor, egal ob jüdisch, palästinensisch oder einfach solidarisch. In den Medien wird viel über die „antisemitischen Judenhasser-Protestcamps“ berichtet. Dialog scheint oft unmöglich: Die einen fühlen sich nicht mehr sicher, die anderen fühlen sich in ihren Forderungen nicht gehört; Angst, Wut und Verzweiflung gibt es auf beiden Seiten.

Auf der Berlinale werde ich an das Potenzial des Mediums Film als verständnis- und dialogstiftendes Werkzeug erinnert. In der Nähe des Filmmuseums steht eine Gruppe Filmschaffender mit einem Banner: „Filmworkers for Palestine“. Sie verlesen die Namen von getöteten Künstler:innen, Filmemacher:innen und Kreativen, die nun nie wieder Kunst schaffen werden.

   - Da ist es wieder: „nie wieder“.

Kurz darauf verbreiten sich die Schlagzeilen über den „Berlinale-Eklat“ wie ein Lauffeuer. Im Zentrum steht der Dokumentarfilm NO OTHER LAND (PS/NO 2024) von Yuval Abraham und Basel Adra, der den Panoramapublikumspreis gewinnt. Die Einseitigkeit der Dankesreden wird beklagt, es hagelt Antisemitismusvorwürfe, Israel-Hass sei verbreitet worden. Claudia Roth applaudiert zwar, stellt im Nachgang jedoch klar, dass ihr Applaus nur dem jüdisch-israelischen, nicht aber seinem palästinensischen Co-Filmemacher gegolten habe. Deutsche Politiker:innen und Medien co-kreieren einen Skandal, der in Morddrohungen für die Filmemacher resultiert und Deutschlands Prioritäten aufzeigt: Jegliche Kritik an Israel unterbinden, auch 30.000 Tote später.

Die Frage, die sich mir immer wieder aufdrängt – situationsabhängig: beiläufig/drängend/spöttisch/wütend/verzweifelt/ungläubig/traurig/selten hoffnungsvoll – ist die: Wenn die Gegenwart irgendwann filmisch verhandelt wird, was wird zu sehen sein? Welche Geschichten werden erzählt? Wenn die unzähligen Videoaufnahmen zusammengepuzzelt werden, werden die Menschen den Kopf schütteln und leugnen gewusst zu haben, wie ein Stück Menschlichkeit in Gaza begraben wurde? Wird es ihnen so egal sein wie heute? Oder werden sie sich vor der Nachwelt damit rechtfertigen, dass damals ja alles so kompliziert gewesen sei … Und wie wird diese Nachwelt aussehen? Indessen das Unverständnis darüber, dass so wenig passiert, obwohl die Bilder für sich sprechen. Viele davon kommen in deutschen Medien gar nicht erst an, verbreiten sich nur in sozialen Medien. Für jede Aufnahme schweben palästinensische Journalist:innen in Lebensgefahr – sie sind die einzigen, die berichten können, und die blauen Presse-Westen sind mitunter weniger Schutz als Zielscheibe. Die grausame Sprache des Dokumentierens. Wird es die Geschichte des ersten (versuchten) Völkermordes sein, der seinerzeit live gestreamt wurde?

   - Doch was weißt du schon?

   - Zu wenig.

   - Über Definitionen werden Gerichte entscheiden und Wissenschaftler:innen diskutieren. 

   - Die Retrospektive ist immer schlauer.

   - Ist dem so? Schau dich doch um. Wir sind die Retrospektive der Vergangenheiten. Sind wir wirklich schlauer?

   - Wenn du so fragst … 

   - Die Realität und die Spuren, die sie bei allen Betroffenen hinterlassen wird, werden nie auch nur ansatzweise in die wenigen Buchstaben eines Begriffs gepresst werden können.

Im März regnet es in Gaza weiterhin Bomben. Und Hilfsgüter aus Flugzeugen. Beides wird von Deutschland mitfinanziert.

April: Tränen tropfen auf die Seiten des Gedichtbands How to Cure a Ghost von Fariah Roísin, ich bleibe an einzelnen Absätzen hängen, die treffend beschreiben, wie sich die Welt momentan anfühlt. Fariahs Worte sind wie eine Lupe, die den Spielteppich untersucht, seine hässlichen Seiten vergrößert, beleuchtet, wie tief die Probleme sitzen, dass sie eingewoben sind in den Stoff des Lebens, verwurzelt in dieser Welt, die kein Spielplatz ist, sondern Realität.

   - „but no history books, or sweet jeremiads about the tragedy of human life, or ‘never again,’ just an, ‘oh, that really happened?’ maybe a soft, soft gush, a momentary pang. but soon the memory oozes out, and those bodies remain nameless, cold and dead beneath the wretched soil. forgotten. a terrible end.“1 

   - Hoffen wir, dass die Namen diesmal nicht in Vergessenheit geraten.

Der Versuch von Menschen zu lernen, die mehr Ahnung haben, oder andere Lebenserfahrungen – oft beides. Ist Perspektivgewinnung nicht das, wofür ich studiere? Und doch bleiben die meisten universitären Räume still, die Versammlungen, in denen meine Gedanken, Ängste und Hilflosigkeit Gehör finden, sind privat oder studentisch organisiert. Mein Instagram-Feed verändert und diversifiziert sich stetig weiter, der Algorithmus wird zum Trichter: statt mindless scrolling nun Informationsfluten (lernen/verifizieren/verzweifeln/teilen) unterbrochen von irritierenden Banalitäten wie Katzenvideos.

Im Mai beginnt es zu regnen, als sich die Demonstrierenden mit Protestschildern, Fahnen und winzigen, rot beschmierten Leichensack-Attrappen auf dem Bahnhofsvorplatz einfinden. Doch das hält sie nicht ab, die Protestrufe werden lauter, die Reden emotionaler – der nächtliche Angriff auf ein Lager von Zivilist:innen in Rafah, die grausamen Bilder von brennenden Zelten samt ihrer Bewohner:innen haben die Menschen heute spontan auf die Straße getrieben. Das Video eines Mannes, der einen leblosen Babykörper in die Höhe hält, kann auch der Regen nicht mehr aus dem kollektiven Gedächtnis spülen. Dieses kopflose Baby wird zum traurigen Symbol der Doppelmoral, waren es doch die Schlagzeilen über geköpfte und verbrannte Babys, die nach dem 7. Oktober weltweit eine Welle der Empörung auslösten und sich später als falsch herausstellten. Dieser Krieg ist auch ein Krieg der Propaganda, Rassismus gefütterter KI-Systeme, des Austestens (und Erweiterns) roter Linien.

Ich sehe mir Drohnenaufnahmen aus dem Urlaub an. Erinnere mich an den Blick aus dem Flugzeug. Die kleine Spielzeugwelt. Wie es wohl ist, Bomben von oben abzuwerfen? Drohnen fernzusteuern; nur einen Knopf drücken zu müssen, um Häuser, Straßen, Schulen, Spielplätze, Familien zu vernichten? Wie es wohl ist, unten zu stehen und bei jedem Flugzeug, bei jedem Surren zu wissen, dass das kein Langstreckenflug ist, kein flatternder Kolibri, sondern dass das Leben jeden Moment vorbei sein kann? Es liegt außerhalb meiner Vorstellungskraft, wie so vieles in den letzten Monaten.

Hier ein Krieg der Diskurse: über Verhältnismäßigkeiten; Antisemitismusdefinitionen; tatsächlichen Antisemitismus und die Instrumentalisierung von Antisemitismus; Zionismus; antimuslimischen und -arabischen Rassismus und Praktiken der Entmenschlichung. Über Repressionen, Polizeigewalt, das Aushebeln von Gewaltenteilung und das Handeln (oder Nichthandeln) von Politiker:innen, über die Verantwortung und Verantwortungslosigkeit der Presse, Versammlungsfreiheit und das Grundgesetz, über Wissenschaftsfreiheit und „Universitäter“. Doch viele dieser Diskussionen scheinen die breite Masse nicht zu erreichen oder – öfter noch – nicht zu interessieren. Dabei liegt in ihnen die Zukunft. Was gestern noch zähneknirschend hingenommen wird, ist morgen schon Normalität und übermorgen …

   - Stell es dir lieber nicht vor. 

   - Muss ich nicht. Dafür hatte ich Geschichtsunterricht.

Juni. Ich bin wütend. Versuche zu verstehen, versuche zu jonglieren, versuche den Verstand nicht zu verlieren. Ich bin wütend und ich muss ein Essay schreiben zum Thema ‚Film und Versammeln‘. Bei dem Versuch, mich zu konzentrieren, schwappt die Ungerechtigkeit in meinem Kopf herum, ertränkt meine Gedanken. Es ist nur Platz für die Bilder, die ich jeden Tag zu sehen bekomme, die etablierten Medien, die „das Sterben“ von Palästinenser:innen relativieren, als sei es eine passive Aktivität, deren Ursache nicht benannt werden müsse, nicht enden wollende Videos von Tod, Zerstörung, Menschenrechtsverletzungen, von Warnungen, die zu Wirklichkeiten werden und gestrandeten LKWs voller rottender Lebensmittel. Ich schreibe und bin wütend, denn das Limit von 1.500 Wörtern reicht nicht ansatzweise aus. Ich registriere das Schweigen meiner Freund:innen, sitze in Seminaren, in denen Kommilitonen sagen, dass das Thema so komplex sei, man traue sich keine Meinung dazu zu.

   - Halt mal kurz. Sagtest du nicht eben noch, dass du auch zu wenig weißt?

   - Nichts ist so kompliziert, dass man sich nicht gegen das Töten von unschuldigen Menschen aussprechen kann. Niemand würde das Wort „kompliziert“ in den Mund nehmen oder Kollektivstrafen verteidigen, wenn die eigene Familie betroffen wäre.

   - Noch ein guter Gedanke.

Wenn die Bilderflut, die sich in den sozialen Medien, in Köpfen und Albträumen ansammelt, zu viel wird, wenn Investigationen immer grausamere Verbrechen an unschuldigen Menschen aufdecken, wenn selbst (vermeintlich) schuldige Menschen nicht mehr wie Menschen behandelt und wahrgenommen werden, wenn Artikel 2 des Grundgesetzes nur eine Aneinanderreihung von Worten ist, die, wenn sie nicht für alle gelten, langsam ihre Bedeutung verlieren, wenn die Waage immer mehr aus dem Gleichgewicht gerät – Schmerz/Empathie/Trauer/Wut/Verzweiflung/Hass oder Apathie/Wegsehen/Weghören/Schweigen/„Darüber weiß ich zu wenig“ überwiegt – bleibt am Ende nur …

   - Dialog.

Das Versammeln von Körpern, von Stimmen, Perspektiven, von geteilten Werten und Zielen, Strategien und Hoffnungen. Dialog von Bildern, Filmen. Es gibt so viele schlaue Menschen, die organisieren, Bildungsarbeit leisten, Intersektionalität aufzeigen, das System von innen und außen verändern. Die denken, dokumentieren, dekolonialisieren, demontieren, demonstrieren, boykottieren, Menschenrechte einfordern, sich verletzlich machen, Perspektiven schaffen, laut sind, sich kündigen lassen, kämpfen, Kunst erschaffen. Was für ein Privileg, wenn alles, was zu tun bleibt, ist: zuzuhören und zu lernen.

Wenn Wissenschaft kein Wissen schafft, was tut sie dann? Wenn sich mit dem Medium Film nicht auch zur Wehr gesetzt, dokumentiert und ge-/belehrt wird, wie soll man sich dann noch davon unterhalten lassen?

   - Du stellst viele Fragen.

   - Nur so lernt man.

   - Kann ich dir auch eine Frage stellen?

   - Du kannst alles. Du bist ich.

   - Was liegt zwischen Himmel und Hölle?

   - Ein freies Palästina.
 

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    Róisín, Fariah (2019): How to Cure a Ghost. Auszug aus dem Gedicht „1971“, S. 113.