Es ist zuweilen unter den Leuten in meinem Alter (tendenziell Mitte, auch wenn ich es lieber Anfang zwanzig nenne) sehr verpönt und das kann ich durchaus nachvollziehen. Und trotzdem ist das Thema der Rede, oder der essayistischen Auseinandersetzung wert, auch auf die Gefahr hin, dass allein der Name des zu behandelten Gegenstands so manch einer Person ein entnervtes Schnauben entlockt. Tik tak genug der Neugiermacherei. TikTok, so lautet das Stichwort.
An wissenschaftlicher Literatur findet man noch recht wenig zu der App, die vor mittlerweile einigen Jahren als ‚Musical.ly‘ bekannt war und von dem chinesischen Unternehmen ByteDance entwickelt wurde. ‚Music‘ und ‚Dance‘, wie es in den beiden Namen steckt, machten damals noch den größten Anteil an Inhalten der App aus, nomen est omen. Verpackt in kurzen Videoclips, die von den Nutzer*innen hochgeladen werden konnten, wurde auf Musical.ly viel getanzt und „gelipsynct“. Das hat sich mittlerweile geändert, ähnlich wie der Name. Öffne ich die App TikTok bei mir auf dem Handy (ja genau, jetzt gerade in diesem Augenblick) blicke ich auf das Video eines coolen Typen mit Sonnenbrille unter strahlend blauem Himmel, der sein Eis genießt. Dann zoomt er auf das Eis und daraus wird ein Drohnenflug über eine Schneelandschaft. Das Video hat 9,8 Mio. Likes. Der Topkommentar darunter stammt von BULLDOG Hautpflege (ein verifizierter Account, der somit offiziell von dem Unternehmen betrieben wird) und lautet: „Besserer Übergang als mein Barber.“ Hm. Ich kenne weder den Nutzer noch das Unternehmen. Ob mir das Video gefällt? Muss es ja, denn oben drüber prangen die Worte “Für dich“. Die “Für dich“ oder auch “For you“-Page (FYP), die durch den Algorithmus bestimmt wird, der sich von meinem Like- und Kommentarverhalten nährt. Nutzerinteraktionen, Video-Informationen und Geräte- und Kontoeinstellungen spielen bei der Gestaltung dieses Algorithmus eine Rolle. Dabei vermittelt werden sollen kurze, unterhaltsame und kreative Videos, die oft aktuelle Trends, Challenges oder Musik zum Thema haben. Die genauen Mechanismen jedoch, die hinter dem TikTok-Algorithmus stehen, werden von ByteDance nicht vollends transparent gemacht. „Die Mission von TikTok ist es, Menschen zu inspirieren und Freude zu bereiten“, so lautet der erste Satz der TikTok-Richtlinien zur Transparenz nach dem Medienstaatsvertrag (MStV)1. Ob mir das Video wirklich Freude bringt oder nicht, weiß ich immer noch nicht. Aber das ist auch nicht schlimm, die App ist so aufgebaut, dass ich einfach mit meinem Daumen nach oben wischen kann und schon geht es weiter mit dem nächsten Clip. Noch ein Swipe und noch ein Swipe. Als obliege die Navigation innerhalb der App eher meinem Daumen als meinem Gehirn. Elias Canetti schreibt 1960 in seinen essayistischen Überlegungen zu Masse und Macht von einem Rhythmus, der den Füßen entspringt2. Hier entsteht der Rhythmus der Masse über die Daumen. Und natürlich besteht nicht jedes Video aus Eis und Sonnenschein. Gerade der Begriff „Fake News“ wird oft mit den sozialen Medien in Verbindung gebracht und TikTok bildet dabei keine Ausnahme. Doch laut der Bundeszentrale für politische Bildung nutzen im Jahr 2022 in Deutschland etwa 73% der 16–19-Jährigen die Plattform als Hauptinformationsquelle zu Politik und Nachrichten3. Wieso führen mich meine Gedanken jetzt hier hin? Am 09.06.2024 fanden in Europa die Europawahlen statt. Wie auch in Frankreich, Österreich und weiteren Ländern zeichnet sich ein starker Rechtsruck in Deutschland ab. Vor allem auch die junge Generation der 16-24 Jährigen geben der AfD ihre Stimme. Dass die Social Media Präsenz der Parteien dabei ebenfalls mit ins Gewicht fällt, wird immer deutlicher. Damit möchte ich nicht den anklagenden Zeigefinger auf TikTok richten (nur den Daumen) und behaupten, dass junge Menschen nur aufgrund der sozialen Medien eine Partei gewählt haben, die eine antieuropäische, konservative, ausgrenzende und diskriminierende Politik vertritt. Immerhin ist es eben nicht nur der Daumen, der sich durch die Unmengen an Videomaterial klickt und wischt. Nicht umsonst wurde die Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre durchgesetzt, ein Alter, dem ich die Souveränität bei der Wahlentscheidung hier nicht absprechen möchte.
Zeiten der Krise bringen häufig den Wunsch nach autoritären Machtstrukturen mit sich. Ein starker Anführer mit schnellen und simplen „Lösungen“. Ein Leithammel. Die ZEIT veröffentlicht zum 6. Juni einen spannenden Artikel in ihrem Dossier, in dem es heißt:
„Eva Jonas schloss daraus, dass der von John Jost beschriebene Rechtsruck, den Menschen in Bedrohungssituationen vollziehen, einhergeht mit etwas anderem: Menschen, die sich bedroht fühlen, würden »gruppiger«, sagt Jonas. Sie flüchten sich, weil sie allein das Problem nicht lösen können, es aber unbedingt gelöst haben wollen, in die Identifikation mit einer Gruppe, der sie als Ganzes die Lösung zutrauen – der AfD, dem ‚Islamischen Staat‘, den Russen, den Weißen.“ 4
Nun sitze ich also vor meinem Handy und mein Daumen wendet sich ab von Speiseeis und Sonnenschein. Denn auch auf TikTok lassen sich eben solche (digitalen) Räume finden, in denen sich Menschen versammeln, „guppiger“ werden. Auf Accounts, in Kommentarsektionen unter Videos, oder in privaten Chaträumen und Gruppen, an die Videos weitergeleitet werden. Wie sieht die Lösung aus, die von der AfD auf TikTok vermittelt wird?
Kaum eine Partei hat auf TikTok eine solche Zahl an Followern wie die AfD. Sie liegt mit 438.1 Tsd. weit an der Spitze. Darauf folgen die SPD mit 131 Tsd., die CDU/CSU mit 23.7 Tsd. und die Grünen mit 17.3 Tsd. Followern5. Hinzu kommen diverse Accounts jeweiliger Spitzenkandidat*innen. Auch hier verzeichnet Maximilian Krah Tausende von Abonennt*innen. Zusätzlich gibt es viele weitere Accounts, die seine Videos reposten, also erneut auf ihrem Profil veröffentlichen. Obwohl dieser Mann Verbrechen der SS relativiert. Wie sehen die Videos aus, die hier zirkulieren? Zuallererst sind sie kurz. In einem Beitrag rühmt sich Krah damit, in 90 Sekunden auf TikTok ein Statement landen zu können, während seine „Gegner“ dafür 30 Minuten im Fernsehen bräuchten. Lügen, so behauptet er, bräuchten Zeit. Liegt hier Würze in der Kürze oder einfach Polemik? Kaum sachliche Argumente, dafür eine große Menge an scharfen Meinungen und persönlichen Angriffen lassen sich hier finden. Die Aussagen in seinen Videos zeugen oft von radikalen Ideologien und der überstarken Moralisierung öffentlicher Diskurse. Dafür wählt Krah kurze Sätze. Eine Sprache ohne viele Fremdwörter oder Fachbegriffe. Meistens bildet er das Zentrum des Bildes und richtet den Blick direkt in die Kamera. Den Zeigefinger erhoben. Differenziert wird selten, diskreditiert dafür umso öfter. Sei es die Arbeit oder die Ausrichtung anderer Parteien oder das deutsche Schul- und Bildungssystem. Außerdem fällt mir auf, wie sehr sich die direkte Anrede durch seine Beiträge zieht. Während beispielsweise bei den Grünen von einem ‚wir‘ die Rede ist, sind die Zuschauer*innen von Krahs Video ein ‚Du‘. Ein ‚Du‘, dem direkte Anweisungen erteilt werden. Hier ein Beispiel: „Fakten sind das, was du siehst, wenn du aus deinem Haus trittst.“6 Klingt für mich nach einer sehr engstirnigen Faktenlage à la „Was der Bauer nicht kennt, frisst er nicht“. Na ja. Auch sind einige der Videos, die mir angezeigt werden, von Musik unterlegt, die sich anhört, als wolle sie dem Gesagten einen epischen Anstrich verleihen. Pompös. In besagtem Video geht es noch weiter: „Fakten sind das, was du siehst, wenn du über den Schulhof gehst.“ Hier schimmert durch, wie bewusst sich die AfD ihrer jüngeren Zielgruppe zu sein scheint. Gerade in der Jugend sind Unsicherheiten und Identitätskrisen nicht selten und hier und da wirken Krahs Worte beinahe schon wie die eines Motivationscoachs. Mach dich stark! Begehre gegen deine Lehrer auf! Lerne etwas über führende deutsche Unternehmen! Ups! Beinahe hätte ich den Patriotismus vergessen, der in den Videos mitschwingt und genauso plakativ eingesetzt wird wie das Ausrufezeichen!!!

Screenshot der Profilübersicht des offiziellen TikTok-Accounts von Maximilian Krah (@maximilian_krah.), (30.06.2024).
Nun rückt langsam die Frage näher, inwiefern solche Beiträge noch der freien Meinungsäußerung entsprechen, oder schon in propagandistische Beeinflussung umschlagen. In Populismus, wie mein Dozent Dr. Matthias Wittmann anmerkt. Populismus bedient sich seiner ganz eigenen Konstruktionsform der (digitalen) Versammlung, die sich von progressiven, emanzipatorischen, widerständigen Versammlungsweisen unterscheidet. Die singulären „Du‘s“ sollen zu einem völkischen, exklusiven Wir (gegen die Anderen) werden, zu einem homogenen Volkskörper. Es geht also um Versammlung als völkischer Zusammenhalt, als digitale Verdichtung von (digital adressierten) Körpern, die sich in einem möglichst kurzen – eben: verdichteten – Satz wiederfinden sollen. Anstelle des Lichtenberg‘schen „Sprachkürze gibt Denkweite“ tritt eine „Sprachkürze", die Menschen, im Stil von Befehlen, wie in einer Skinner-Box, auf Reiz-Reaktionsschema (Klicken, Abonnieren, Folgen!) reduziert und innerhalb der Versammelten keinen (Spiel-)Raum, keinen Abstand mehr toleriert.
Wie im März 2024 berichtet wird, hat TikTok selbst bereits Maßnahmen zur Einschränkung der Reichweite des AfD-Spitzenpolitikers unternommen. Diese Maßnahmen bestehen darin, dass Krahs Beiträge in einem Zeitraum von 90 Tagen nicht mehr automatisch auf die FYP von Nutzer*innen gespielt werden können. Durchgesetzt wurde dies aufgrund mehrerer Verstöße gegen die Richtlinien der Plattform7. Unter dem Schlagwort „hate speech“, der Hassrede, wurden zudem einige seiner Videos von der Plattform gesperrt. Trotzdem. Die AfD und deren Vertreter*innen sind auf TikTok sehr präsent. Es wäre wichtig zu untersuchen, inwiefern diese Ansammlung von Videos und der darunter stattfindende Austausch von Meinungen, bzw. auch das digitale Zusammenkommen Gleichgesinnter sich potenziell auf das Wahlverhalten junger Menschen auswirkt. Denn wo rechtsextremistische Inhalte verbreitet werden, die auf eine ethnische Volkseinheit abzielen, wird auch die Demokratie gefährdet, in der wir leben. Aber ich will nicht zu einem Ende kommen, das sich als ein Appell für mehr Restriktion im Netz deuten lässt. Ich will lieber an die Gehirne hinter den Daumen appellieren, auch die Inhalte, die in kurzen Videos geäußert werden, kritisch zu hinterfragen. Gegebenenfalls zu recherchieren; Wer die Person ist, die dort zu mir spricht? Mit welcher Intention wurde das Video hochgeladen? Oder vielleicht einfach mal den Daumen eine Pause gönnen.
Quellenangaben:
Berbner, Bastian (2024): In diesem Jahr können überall auf der Welt so viele Menschen ihre Stimmen abgeben wie nie zuvor. Das muss doch eine gute Nachricht für die Demokratie sein. Oder? In: DIE ZEIT, Jg. 24, Nr. 25, S. 13-15.
Bundeszentrale für politische Bildung (2024): TikTok-Verbot in den USA? https://www.bpb.de/kurz-knapp/taegliche-dosis-politik/547858/tiktok-verbot-in-den-usa/#:~:text=%F0%9F%93%83%F0%9F%9A%AB%20Das%20Gesetz,Gefahr% 20f%C3%BCr%20die%20nationale%20Sicherheit. (30.06.2024)
Canetti, Elias (2001): Masse und Macht. Wesentliche Zusammenhänge zum Verständnis unseres Zeitalters. Hamburg: Claassen Verlag GmbH. 27 Aufl. [1960].
o. A. (@maximilian.krah.afd): o. T. TikTok (27.05.2024). Aufgerufen am 30.06.2024, https://www.tiktok.com/@maximilian.krah.afd/video/7373644838153030944?_r=1&_t=8nCDlPhJvKj
o. A. ZDF (2024): TikTok schränkt Account von AfD-Mann Krah ein. https://www.zdf.de/nachrichten/politik/deutschland/maximilian-krah-tiktok-afd-reichweite-100.html (30.06.2024)
o. A. TikTok (2024): Transparenz nach Medienstaatsvertrag (MStV). https://www.tiktok.com/transparency/de-de/german-state-treaty/ (06.08.2024)