1.
Am 20. Februar 2020 wurde sowohl ‚Patient 1‘ in Italien positiv auf COVID-19 getestet als auch am selben Tag die 50. Berlinale eröffnet. Die darauffolgende Pandemie führte 2022 zur Einführung eines Online-Ticketingsystems für Akkreditierte – der Jahrgang 2021 fand pandemiebedingt nur online statt –, doch standen 2020 noch jeden Tag Tausende dicht an dicht in den morgendlichen Ticketschlangen – einer davon ich. Wie auf jedem anderen Filmfestival auch wurde im Verlauf der Berlinale jeder slow-cinema-Film zu einem Hust-Orchester und ich immer kränker. Ob es sich um COVID oder eine generische ‚Festivalkrankheit‘ gehandelt hat (oder eine Mischung von beidem), weiß ich nicht. Eines steht jedoch fest: Die kollektive Filmrezeption ist ein riesiger Infektionsherd; das gilt natürlich gleichermaßen für den gemeinen Kinobesuch. Statistisch gesehen ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass in der Filmgeschichte Kinobesuche tödliche Infektionen zur Folge hatten, spätestens während der Corona-Pandemie.
2.
Am Ende des Abspanns von De grønne slagtere (Dänische Delikatessen, DK 2003) erscheint der berühmte Slogan: Bei der Produktion dieses Films kamen keine Tiere zu Schaden. Die Besiegelung erscheint etwas ironisch, wenn man bedenkt, dass in den meisten Einstellungen echte vollbepackte Fleischtheken oder zerteilungsbereite Kadavar gezeigt werden. (In dem Making-of beschreiben die Schauspieler:innen eindrücklich den Gestank des im heiß brennenden Lampenschein verrottenden Fleisches.) Ein Jahr später verursachte Lars von Trier einen Skandal, als er für seinen Film Manderlay (DK/SE/NL/FR/DE 2005) vor laufender Kamera einen Esel schlachten ließ – ein „alter selbstmörderischer Esel, dem wir aus dieser Welt halfen“, wie er später in einem Interview sagte.1 Derartige dokumentarische Aufnahmen von Tiertoden sind ein wiederkehrendes Motiv in der Filmgeschichte, gerade weil ihre Tode nicht mit den gleichen (sozialen – ethischen – visuellen – kulturellen) Einschränkungen belegt sind wie menschliche. (‚Echte‘ Snuff-Filme gibt es laut Wikipedia keine.)
Wir können zwar keine Menschen für unsere Filme töten, doch können wir uns an diese Grenze herantasten. Insbesondere der Action-Film und seine nähere Verwandtschaft sind regelrecht definiert durch Tod und Nahtod und je echter diese Nahtode und Tode dabei gefilmt werden, desto besser. Bloß kein Greenscreen, keine Trickserei, bloß keine fakeness. Tom Cruise ist ein echter Schauspieler, denn er macht noch seine eigenen Stunts … doch sind Stunts echt gefährlich. Oder gerade: weil Stunts echt gefährlich sind? Die Lebensgefahr beim Filmdreh schreibt sich in das Filmbild ein. Das höchste Qualitätsmerkmal, dass ein echter Film folglich haben kann, ist der Tod einer Stuntperson, denn er versieht den Film mit der Indexikalität des Todes (statt bloß des Nahtodes). In zahlreichen Hollywood-Filmen finden sich Widmungen für gefallene Stuntpersonen und im allerbesten Fall kann sogar das Bewegtbildmaterial des Todes im finalen Schnitt verwendet werden, oder zumindest der Take vor dem tödlichen Unfall, wie z. B. bei xXx (US 2002). Zusammen mit unseren Filmfiguren töten wir auch ihre Verkörperer.
Entnommen habe ich diese Angaben den diversen (mittlerweile vermutlich durch ChatGPT oder ein anderes large language model wiedergekäuten) Zusammenstellungen der ‚tragischsten Set-Unfälle‘. Das Internet ist voll von solchen Todes-Listicles.2
3.
2022 wurde der litauische Dokumentarfilmregisseur Mantas Kvedaravicius beim Drehen in der ukrainischen Stadt Mariupol von russischen Soldaten getötet.
2003 wurde der selbsterklärte Tierschützer und Dokumentarfilmregisseur Timothy Treadwell (‚Grizzly Man‘) von einem Grizzly-Bären gefressen; einzig der Ton seiner letzten Minuten hat überdauerte, da der Objektivdeckel nicht entfernt war.
4.
1929 tötete die spontane Selbstentzündung von Zellulosenitrat-Filmrollen im Glen Cinema in Paisley 71 Menschen (Kinder). Die Verwendung des gefährlichen Filmmaterials nahm im Verlauf der 1950er-Jahre ab, doch riss es bis zu diesem Zeitpunkt zusätzlich zu signifikanten Teilen der frühen Filmgeschichte auch diverse Menschenleben mit in seinen Tod. Die Persönlichkeit von Film ist, entgegen Orson Welles‘ berühmten Zitats, nicht „self-destructive” sondern ‚destructive‘.3
5.
Das Enden von Leben gilt es zu mediatisieren, einzubetten und zu erklären, um die Angst vor dem Sterben zu bändigen – seine absolute Finalität geht auf in der Ereignishaftigkeit des Todes und seiner endlosen (filmischen) Wiederholbarkeit. River Phoenix, Rex Gildo, Marilyn Monroe. Sie alle verirrten sich in der verführerisch glamourösen Schattenseite der Filmindustrie, so die Presse, ‚allgemeine Öffentlichkeit‘ und auch das Kino selbst. In endlosen Biopics, wie z. B. Rex Gildo: Der letzte Tanz (2022), ver-filmt es diese eigenen Tötungen und macht sie so warenförmig und zirkulationsfähig: ein profitabler Kreislauf.
6.
Analogfilm – 35mm, 16mm, 8mm, je grobkörniger desto besser – erfährt heutzutage insbesondere im Arthouse-Bereich eine mittelgroße Renaissance; für viele Künstler:innen gilt er als ‚echter‘ oder ‚authentischer‘. Einer der wichtigsten Rohstoffe für seine Herstellung ist Gelatine. Von 1930–2011 betrieb Kodak sogar eine eigene Rinderfarm in Peabody, Massachusetts: die Eastman Gelatine Corporation. (Heutzutage kauft Kodak seine Gelatine vermutlich von Drittunternehmen ein.) Eine synthetische oder pflanzliche Alternative, die die Vielzahl chemischer Eigenschaften des tierischen Rohstoffes reproduzieren kann, gibt es laut dem Hersteller zumindest noch keine.
Doch auch der digitale Film tötet. Wie jedes Computergerät, bedarf es für die Herstellung von Digitalkameras, Schnittcomputern und Media Blocks seltene Erden, deren preiswerten Abbau wir im globalen Süden mittels Menschenleben sicherstellen. Das digitale Kino ist somit ebenso Produkt neokolonialer Ausbeutungsstrukturen wie das analoge Kino von Tierleben.
7.
Gerüchten zufolge war James Holmes von der Figur des Joker inspiriert, als er 2012 während einer Vorführung des Films The Dark Knight Rises (US/UK 2012) im Cinemark Century 16 in Aurora 12 Kinogänger:innen erschoss und 70 weitere verletzte. Dies hat sich zwar als falsch entpuppt, doch nichtsdestotrotz war es das raumzeitliche Ordnungsprinzip der Institution Kino, die diese Menschengruppe überhaupt erst als potenzielle Ziel-Gruppe von tödlicher Gewalt konstituierte. In der Geschichte des Kinos gibt es einige solche Fälle. So begann die iranische Revolution in Teilen mit einem Brandanschlag auf das Cinema Rex in Abadan im Jahre 1978, bei dem 422 Menschen zu Tode kamen. Auch der schwedische Ministerpräsident Olof Palme wurde 1986 ca. fünf Minuten vom Kino Grand entfernt erschossen, wo er zuvor Bröderna Mozart (Die Gebrüder Mozart, SE 1986) mit seiner Familie gesehen hatte. (Diese Eigenschaft des Kinos hielt z. B. auch in der ikonischen Ermordung Hitlers in Inglorious Basterds (US/DE 2009) Einzug.)
8.
Propagandafilme töten. Denn Filme reproduzieren nicht nur Diskurse, sie produzieren und transformieren sie auch. Und sie können aktivieren: konkrete Handlungen in der materiellen Welt. Ein besonders plakatives Beispiel dafür ist Jaws (1975). Im Zuge seiner Veröffentlichung (und der von seinen Nachahmern) verloren Haie in einigen Teilen der Welt ihren Schutzstatus und wurden dadurch zum Objekt tödlicher Gewalt. (Diesen Einfluss auf u. a. Rechtsprechung bezeichnet Christopher Neff als „Jaws Effect“.)4
9.
2004 erlebt der brasilianische Priester Jose Geraldo Soares während einer Filmvorführung von The Passion of the Christ (Die Passion Christi, US 2004) mit seiner Kirchengemeinde einen Infarkt. Es wurde oft spekuliert, dass die schockierenden Gewaltdarstellungen der Grund gewesen seien, doch seine Familie und Freund:innen lehnen diese Interpretation vehement ab: „Er hatte ganz ruhig neben seiner Frau gesessen und sich den Film angesehen.“5 Vielleicht gibt es eine andere Erklärung.
Stell dir den allerschönsten Film vor: Jede noch so alltägliche Regung ist durchdrungen von der eleganten Perfektion eines Balletts. Jedes Bild gleicht einem Magnum Opus der Meisterfotograf:innen des 20. Jahrhunderts (beispielsweise Narahara Ikkō oder Mario Giacomelli). Jeder ausgesprochene und unausgesprochene Satz ist ein literarischer Kunstgriff. Ein Film, der so herzzerreißend schön ist, dass das ‚echte‘ Leben plötzlich farblos erscheint und an Bedeutung verliert.
10.
Berechnungen auf Wikipedia zufolge wurden weltweit 389.792.470 Kinotickets für Titanic (1997) verkauft. Bei einer angenommenen Lebenserwartung von 75 Jahren beträgt dies insgesamt eine Sichtzeit von 1928 Menschenleben – mehr als Todesfälle bei dem Titanic-Unglück. (Diese Hochrechnung beinhaltet nicht einmal Home-Video-Sichtungen.) Chantal Akerman hat vielzitierterweise in Chantal Akerman, From Here (BR/FR 2010) gesagt:
When people are enjoying a film, a movie, they say: ‚I didn't see the time. The time flies.‘ That is supposed to be a good movie but I think that when the time fl[ies] and you don't see the time passing by, you are robbed [of] 1.5h of your life, or 2h, because all you have in life is time. And in fact with my film, you are aware of every second passing by, through your body.
Statt zu stehlen, halten slow cinema und Co. ihre erwartungsvoll geöffnete Hand hin. Denn ob wahrgenommen oder vorbeigeflogen, geschenkt oder gestohlen, eine unumstößliche Tatsache bleibt bestehen: Filmzeit ist Lebenszeit. Diese Beobachtung gilt natürlich für jede Handlung und ist dennoch nicht trivial, denn wir haben nicht viel Leben(szeit). Dies ist weder ein Appell für noch gegen den Film. Man sollte Film lediglich nicht auf die leichte Schulter nehmen, denn Film tötet.
- 1
von Trier, Lars (2013): Provokation beinhaltet eine Art von Wahrheit. https://www.focus.de/kultur/kino_tv/esel-esse-ich-nicht-lars-von-trier_id_1821055.html (05.08.2024).
- 2
Siehe beispielsweise Craig, Richard (2023): 10 Worst Disasters To Happen On Major Movie Sets. https://screenrant.com/worst-disasters-major-movie-sets/ (09.08.2024).
- 3
„Film has a personality, and that personality is self-destructive. The job of the archivist is to anticipate what the film may do—and prevent it.“ Welles zit. nach Smither, Roger/Surowiec, Catherine A. (Hrsg.) (2002): This Film is Dangerous. A Celebration of Nitrate Film. Paris: Fédération internationale des archives du film, S. 27.
- 4
Siehe Neff, Christopher (2015): The Jaws Effect. How movie narratives are used to influence policy responses to shark bites in Western Australia. In: Australian Journal of Political Science, Jg. 50, Nr. 1, S.114–127.
- 5
o. A. (2004): Tödliche Passion. Pfarrer stirbt bei Gibsons Jesus-Film. https://www.spiegel.de/panorama/toedliche-passion-pfarrer-stirbt-bei-gibsons-jesus-film-a-291931.html (08.08.2024).