Die isolierende Versammlung

Wie ‚Nighthawks‘ den Film für immer veränderte

Moritz Voigt
Gemälde einer Bar, die von Außen, durch die Vitrine zu sehen ist. In der Bar sitzen zwei Männer mit Hut und eine Frau.
NIGHTHAWKS (1942) von Edward Hopper, Öl auf Leinwand, © The Art Institute of Chicago

Im alltäglichen Leben assoziieren wir Restaurants und Bars mit Geselligkeit. 

Versammlungsorte, in denen wir uns mit Freunden treffen und in denen wir zusammen ein Bier trinken, etwas Essen und dazu eine Geschichte teilen. Versammlungsorte, in denen wir Geschäftstreffen haben, eine neue Beziehung starten und eine alte beenden. Versammlungsorte, in denen wir gemeinsam Sport schauen.

Es sind, würde ich sagen, fröhliche Orte, mit denen wir oft etwas Schönes assoziieren. Dabei verliert sich der Geschmack der bestellten Speisen und Getränke oftmals im sozialen Leben.

In Filmen ist das anders.

Cafés, Bars, Diners, stellen Orte dar, denen das zusammenkommen verwehrt wird, gesellige Räume, die von bedrückender Leere geprägt sind.

Diners etc. sind Orte, an denen in Filmen dis- wie unharmonische Dinge passieren. Es gibt unzählige Beispiele für eine Ästhetik der Isolation in dem Zusammenfinden in gastronomischen Betrieben. 

Zu sehen sind verschiedene Bar-Interieurs mit Theke und Gästen.

Einstellungen aus Filmen und Serien der letzten 40 Jahre, die ‚Nighthawks‘ direkt zitieren. Im Uhrzeigersinn von oben links: 1. Der Riddler (Paul Dano, hinten mittig) sitzt allein an der Theke eines Diners. Aus: THE BATMAN (USA 2022. R: Matt Reeves). 2. Leland Palmer (Ray Wise) denkt in der Bang Bang Bar alleine darüber nach, was er getan hat. Aus: TWIN PEAKS (USA 1990-1991, ABC. C: David Lynch; Mark Frost. ARBITRARY LAW [S02E09]). 3. Menschen versammeln sich in und um ein Diner. Aus: EUPHORIA (USA seit 2019, HBO. C: Sam Levinson. ’03 BONNIE AND CLYDE [S01E05]). 4. Rick Deckard (Harrison Ford, links) sucht zwischen Straßenständen nach einem Verdächtigen. Aus: BLADE RUNNER (USA/HKG 1982. R: Ridley Scott).

Wir finden das an Casper-David-Friedrich-Romantik erinnernde Bild Nighthawks (1942) von Edward Hopper in direkten sowie indirekten Referenzen in vielen Filmen wieder. Es sind die leeren Cafés im Dunkeln, in denen nicht nur der sonst belebte Ort verlassen ist, sondern auch die Straßen, die ihn umgeben. Eine Anlehnung an dieses (Stimmungs-)Bild finden aufmerksame Zuschauer*innen in den Straßen von Midnight in Paris (USA/S 2011. R: Woody Allen), in denen sich Gil (Owen Wilson) in seiner eigenen Philosophie verliert. Menschen und Charaktere, die sich verloren haben und sich ineinander verlieren.

Es sind das Diner und die Bar in Twin Peaks (USA 1990-1991, ABC. C: David Lynch; Mark Frost), in denen Cooper (Kyle McLachlan) „Damn good coffee“ genießt, das Café in A History of Violence (USA/C/D 2005. R: David Cronenberg), in dem Tom Stall (Viggo Mortensen) vor seiner Vergangenheit flieht. Es sind die schweren Blicke auf den Alkoholiker Dixon Steele (Humphrey Bogart) in In a Lonely Place (USA 1950. R: Nicholas Ray), die Suche nach Pete Lund (Burt Lancester) in einem Diner in The Killers (USA 1946. R: Robert Siodmak), und, und, und…

Mann im Vordergrund, an der Theke sitzend. Im Hintergrund unterhalten sich zwei Männer mit Hut und der Barkeeper
Bedrohliche Isolation! Max und Al (William Conrad und Charles McGraw, mittig hinten) suchen Pete Lund in Henry’s Diner und sind kurz davor Nick Adams (Phil Brown, vorne links) zu piesacken, während sie von George (Harry Hayden, hinten rechts) bedient werden. Aus: THE KILLERS (RÄCHER DER UNTERWELT, USA 1946. R: Robert Siodmak).

Neonschilder, Dampf, der über den nassen Straßen wabert und das schwache gelbe Licht der Glühbirnen.

Ich empfinde bei diesen Bildern eine gewisse Melancholie. Die Liminalität des Ganzen erinnert an eine Ampel, die mir um Mitternacht ununterbrochen orange zuzwinkert. Doch anders als die Ampel erhellen die schwachen Glühbirnen in einer Bar die Gesichter der Menschen wie in einem Schaufenster. Sind diese Menschen allein oder gemeinsam da? Sie sitzen zu zweit an Tischen und sehen dennoch isoliert aus. Das Gemälde Nighthawks, reproduziert im modernen Film.

Wer kann heute eine Bar inszenieren, ohne an Film-Noir-Atmosphären zu erinnern? Das hat "Kino-Glaz"1  mit uns gemacht.

Das Motiv der einsamen Held*innen oder Antiheld*innen, die in einem gemeinschaftlichen Ort ihre gemeinschaftslose Trauer ausleben, hat sich in den Jahren der Kinogeschichte, auch ausserhalb des Film-Noir, nicht dramatisch verändert.

Im bereits erwähnten Noir The Killers finden wir das Motiv von Nighthawks wieder. Im Film eventuell nur als indirektes Zitat, doch es ist unabdingbar, dass die 1927 erschienene Kurzgeschichte Hemingways, auf der der Film basiert, das Gemälde Hoppers inspiriert hatte. Dementsprechend naheliegend ist, dass eine Verfilmung von Hemingways Erzählung sich auch von Hoppers Werk inspiriert sehen darf. Der einsame Held Pete Lund besucht die Bar, welche das Drehkreuz des Films darstellt. Sie ist stehts gemäßigt voll und dennoch ist er jederzeit alleine. Der Kontrast zwischen der (normalerweise) belebten Räumlichkeit und dem Einzelgängertum Lunds ist Kernthema von Hoppers Gemälde, aber ebenfalls ein wiederkehrendes Motiv der rauen Filme, die die Basis des damaligen Hollywoods bilden.

Springen wir 40 Jahre in die Zukunft, so findet Nighthaws immer noch ein reges und verzweigtes filmisches Nachleben. Filme wie Blade Runner (USA/HKG 1982. R: Ridley Scott) orientieren sich stark an dem Gemälde und bilden ihrerseits eine postmoderne Wiederbelebung des Noir Films. Die isolierten Straßen sind jetzt von unaufhörlichem Regen überschwemmt und Hoppers Café wird im Falle von Scotts Detektiv-Dystopie, zu einer endlosen Ansammlung von Straßenhändlern umgedichtet. Doch trotz der drastischen Umstellung ist es unabdingbar, dass wir auch hier Inspiration durch Hopper finden.

Nachdem Hopper sowohl den modernen Film als auch den postmodernen Film beeinflusst hat, stellt sich die Frage, wie das im Zusammenhang mit der New Sincerity und dem metamodernen Film2 aussieht. Die Antwort darauf findet sich allerdings schnell: Auch heutzutage finden wir Nighthawks in Folgen von Shameless (USA 2011-2021, Showtime. C: Paul Abbott; John Wells), in verschiedensten Filmen (z.B. in Her [USA 2013. R: Spike Jonze] oder Inherent Vice (USA 2014. R: Paul Thomas Anderson) aufgerufen, um Charaktere an Orten des Zusammenkommens zu reflektieren.

Einsame Menschen sitzen und stehen an der Theke von Bars.
Collage von Einstellungen, die THE KILLERS und damit indirekt Nighthawks zitieren. Von oben links im Uhrzeigersinn: 1. Det. Rust Cohle (Matthew McConaughey) und Det. Marty Hart (Woody Harrelson) sitzen (beide mittig) verloren an einer Bar. Aus: TRUE DETECTIVE (USA seit 2014, HBO. C: Nic Pizzolatto; Issa López. WHO GOES THERE?, [S01E04]). 2. ‚Doc‘ Sportello (Joaquin Phoenix, hinten links) hört Lt. Det. ‚Bigfoot‘ (Josh Brolin, vorne rechts) zu. Aus:  INHERENT VICE (USA 2014. R: Paul Thomas Anderson). 3. Donna Hayward (Lara Flynn Boyle, vorne mittig) in der Bang Bang Bar. Aus: TWIN PEAKS (USA 1990-1991, ABC. C: David Lynch; Mark Frost. DOUBLE PLAY [S02E14]). 4. Tom Stall (Viggo Mortensen, mittig) sitzt in dem von ihm betriebenen Diner und ahnt böses. Aus: A HISTORY OF VIOLENCE (USA/C/D 2005. R: David Cronenberg).

Ein heller, regenloser Tag, die Sonne scheint, bis sich eine Wolke vor sie drängt. In der grauen Helligkeit verliert sich die Freude des Tages. Glas zerspringt, ein Schuss, Menschen schreien.

Hier muss nun ein Bruch entstehen. Nicht der Ort, Schauplatz des Gemäldes, soll Gegenstand der Überlegung bleiben, sondern das Subjekt (der Erfahrung): Das Diner, verlassen und gefüllt zugleich, ein Ort nahenden Unglücks, der Reflexion, Offenbarung, tiefen Trauer und Isolation. 
Ich beobachte hier einen Trend: Filme, auch jenseits des Noir Styles, sind für immer von diesen Themen geprägt. Auch wenn Filme wie My Dinner with Andre (USA 1981. R: Louis Malle) als Paradebeispiel eines gastronomischen Realismus gesehen werden können - in ihnen sieht sich die Art des Isolationsortes, welchen ich zunächst abseits des Kinos beschrieben habe, eher reflektiert. Es fällt doch auf, dass die meisten Diners und Cafés in Filmen von mindestens einem der Kernthemen aus Nighthawks geprägt sind: Isolation, drohendes Unglück oder die Abwesenheit von Euphorie an Orten des Zusammenkommens.

Sucht man heutzutage die Wörter ‚Diner Scene‘ auf YouTube, dann ist der Großteil der Suchergebnisse von drohendem Unheil oder sogar expliziter Gewalt geprägt. Eine Erkenntnis, die hier naheliegend, ist, dass das wiederkehrende Motiv der Gastronomie als Unheilsort im Noir diese Entwickelung begrüßt und bestärkt hat. So können wir doch klar feststellen, dass die Einflüsse von The Killers - beispielsweise in Pulp Fiction (USA 1994. R: Quentin Tarantino) - wiederzufinden sind. Das Diner (in dem Fall vielleicht eher ein Café) als Öffnungs- und Schluss-Szene stellt einen Knotenpunkt für die aufgebrochene Handlung des Films dar. Im Endeffekt ist auch dieses Diner, wenn auch nicht spezifisch von Isolation geprägt, ein Ort, der zu Erkenntnissen für den Charakter Jules (Samuel L. Jackson) führt, bzw. einen Ort der Offenbarung darstellt. Aber Pulp Fiction ist roher, gewaltbereiter als The Killers. Für mich ist diese Härte lediglich eine logische Entwicklung aus der Filmgeschichte der 1940er bis in die 1990er Jahre, die Abschaffung des Hayes-Codes und die steigende Gewalt in Filmen der 1970er, die in den Action Filmen der 1980er kulminiert. Insofern ist die Gewalt eine logische Konsequenz, um in einem kontemporären Kontext die gleichen Themen der Isolation wie in The Killers und, im erweiterten Kontext damit verbunden, Nighthawks, abzuarbeiten. Im Übrigen kann existentielle Angst als Thema amerikanischer Filme rückführend schon seit den Gangster-Filmen der 1930er Jahre beobachtet werden - und findet auch im kontemporären amerikanischen Film nach wie vor seinen Platz . Es ist also logisch, Nighthawks, welches eben diese Angst thematisiert, als eine Konstante bzw. ein wiederkehrendes, nahezu unverändertes und beliebtes Stilmittel zu verstehen, welches sich durch die Filmgeschichte und die Episteme der (amerikanischen) Kunstgeschichte zieht. Es ist als ein existenzieller Ort der Moderne zu verstehen, der über die Zeit auch von post-moderner Ironie weitestgehend verschont blieb und sich als Konstante präsentiert.

Um es auf den Punkt zu bringen: Nighthawks stellvertretend für andere Werke Hoppers (und natürlich auch anderer Künstler*innen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts) sollte als visuelles Leitmotiv des Film Noir und damit das Hollywood der 1940er Jahre betrachtet werden. Die Einflüsse dieses Motivs ziehen sich über die 1980er bis hin zum kontemporären Hollywoodfilm. Rückblenden zu Nighthawks gibt es zahlreiche, so sind Werke wie Blade Runner weiterhin von diesem Gemälde einerseits direkt inspiriert, aber auch indirekt beeinflusst, da sie die Wirkungsgeschichte des Gemäldes mitdenken, wie sich etwa Pulp Fiction von The Killers inspiriert zeigt. Im postmodernen Kontext findet sich selbstverständlich ein ganzes Netzwerk von wechselseitigen -direkten und indirekten - Einflüssen, doch geht es mir um Folgendes: Das Motiv der Gastronomie als entfremdender Isolationsort – und eben nicht als fröhlicher, geselliger Ort – hat möglicherweise gar nicht in Nighthawks seinen Ursprung. Es handelt sich um eine paradigmatische Befindlichkeit der Moderne, die in diesem Bild jedoch eine Verdichtung findet.  Es sieht sich in Filmen aber so oft kopiert, reproduziert, wiederum kopiert und von da weiterentwickelt… Fest steht, dass das Bild zu einem visuellen Refrain wurde, der Moderne, Postmoderne, usw. verbindet, so dass die Gastronomie heutzutage kaum noch als die Art des Versammlungsortes in Filmen oder Serien dargestellt wird, bzw. werden kann, die sie im realen Leben darstellt. Stattdessen als Ort der Negativentwicklung Ihrer Charaktere. Das Kino-Glaz, das Kino-Auge, kann die Gastronomie nicht mehr ohne die Leere von Nighthawks betrachten.

  • 1

    "Kino-Glaz", übersetzt: Kino-Auge, nach dem russischen Filmemacher und Innovateur Dziga Vertov, beschreibt eine Wahrnehmung der Welt, die so nur durch eine Kamera gesehen bzw. in Filmen eingefangen werden kann.

  • 2

    Die Metamoderne ist ein Vorschlag, die Post-Postmoderne zu definieren. Runtergebrochen stellt sie eine neue Form der Moderne dar, die durch postmoderne Ironie informiert zurück zu moderner Aufrichtigkeit findet. Die ‚New Sincerity‘ (Die neue Aufrichtigkeit) ist daher als Teil der Metamoderne zu verstehen und repräsentiert den metamodernen Wunsch nach weniger Ironie und mehr Aufrichtigkeit. Vgl. Vermeulen, Timotheus/van den Akker, Robin (2010): Notes on Metamodernism. In: Journal of Aesthetics & Culture, Vol. 2, Nr. 1. https://doi.org/10.3402/jac.v2i0.5677 (09.02.2024), S. 1-14.