Es werden immer mehr. Einer nach dem anderen kommen sie dazu. Pony Hütchen, Kebab, Krumbiegel, Fee und Elfe, Flügel, Dienstag, Gypsi. Sie springen über Mauern und Zäune, fahren Skateboard oder Inliner. Dreihundert Kinder sind es am Schluss, die den Schauspieler Jürgen Vogel in der Rolle des Bösewichts Grundeis durch die Straßen von Berlin und somit in die Falle treiben. Dreihundert Kinder, so unterschiedlich wie die Stifte in ihren Federmappen, die sich kaum kennen und trotzdem zusammenhalten, um dem Einzelnen, um Emil, zu Gerechtigkeit zu verhelfen.
Dies ist der Höhepunkt des Films Emil und die Detektive (DE, R: Franziska Buch) von 2001. Dreihundert Kinder bevölkern die Straßen von Berlin, sodass kein Auto, kein Fahrrad, keine Erwachsenen mehr an ihnen vorbeikommt. Dreihundert Kinder, die die Straße als ihr Eigen markiert haben und sich nicht aufhalten lassen.
Seit 2019 haben Kinder die Straße wieder für sich zurückerobert. Aber dieses Mal ist es kein Film nach einem Kinderklassiker von Erich Kästner aus dem Jahr 1929. Dieses Mal ist es echt. Und sie stehen nicht nur für einen Einzelnen ein. Sie verfolgen etwas viel Größeres. Für sich, für uns, für alle. Sie wollen unsere Welt retten. Es sind nicht mehr nur Pony Hütchen und dreihundert Berliner Kinder. Dieses Mal sind es Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene überall auf der Welt. Darunter sind Clara, Elias, Silvan, Famke, Moritz, Paul, Luisa, Willi, Joschi, Hannah, Louis und Sofia aus Berlin, die in der Dokumentation Aufschrei der Jugend – Fridays for Future (DE 2020) von Kathrin Pitterling begleitet wurden.
Wir erfahren, dass es nicht darum geht, einfach mal nicht zur Schule zu gehen. Sondern wir erfahren von ihrem Einsatz, von Reden, die bis in die Nacht geschrieben werden, von Herzklopfen bei Auftritten in großen Konzernen und gegenüber Politiker:innen. Und wir erfahren von dem Zeitaufwand für organisatorische Arbeiten, angefangen von den Anmeldungen der Demonstrationen bis zum Aufstellen von Tischen und Bänken. Aber wir erfahren auch von den Ängsten der jungen Menschen, der Enttäuschung über das Pariser Klimaabkommen, der Desillusionierung, der Überforderung, der Frustration und der Verzweiflung, nicht ernst genommen zu werden.
Ich kann mich noch genau an meine erste Fridays for Future-Demo erinnern. Globaler Klimastreik am 20.09.2019. Wie immer ein Freitag. Es war warm, wir genossen den Spätsommer. Ich selbst hatte mein Abiturzeugnis schon längst erhalten, mein FSJ war gerade vorbei und ich wartete auf den Beginn meines Studiums. Mit 15.000 Menschen zogen wir durch Dresden und machten Lärm. Kinder, Jugendliche, junge Erwachsene. Alle waren da. Ständig traf man jemanden, den man kannte. Es war lange nicht meine erste Demo, aber das Gefühl der Gemeinschaft, des Zusammenhalts gemischt mit ein wenig Aufregung und Vorfreude war anders als sonst. Uns junge Menschen vereinte etwas Besonderes. Es war unser Kampf, den wir austrugen. Gegen die Erwachsenen. Gegen die Politik.

Schon 2019 beschlich mich Ehrfurcht vor der Leistung der Schüler:innen vor mir auf dem Lautsprecherwagen, die den Verlauf der Demo nicht aus den Augen verloren, sich mit den Ordner:innen und mit Teilen der Demo in anderen Stadtteilen abstimmten, über Lautsprecheransagen darauf hinwiesen, nicht auf die Bürgersteige auszuweichen, sondern ausschließlich auf der Straße zu gehen und die solch eine große Demo in wochenlanger Arbeit organisiert hatten. Und das alles während wahrscheinlich nicht nur in der Woche darauf Klassenarbeiten darauf warteten, geschrieben zu werden.
Wir liefen auf den Straßen, auf denen normalerweise Autos und Straßenbahnen fuhren, wir liefen durch Wohnviertel, über Brücken, an der Elbe entlang. Wir setzten uns auf Kreuzungen und Straßenbahnschienen, kletterten auf Stromkästen und Poller. Wir erschufen eine Situation, in der ordnungswidrige Dinge auf einmal erlaubt oder zumindest toleriert wurden und trotzdem war der Nervenkitzel, etwas Ungewöhnliches und normalerweise Verbotenes zu tun, immer mit dabei. Es war unser kleines erträumtes Kindheitsabenteuer, das wir wahr werden ließen. Und gleichzeitig traten wir ein für den Klimaschutz, Grenzwerte für die Luftverschmutzung und das große Ziel, den Temperaturanstieg auf 1,5 Grad zu begrenzen. Wir traten ein für alle, die auf der Welt leben und für alle, die noch nach uns leben werden.
Dabei musste ich an die zahlreichen Kinderfilme aus meiner Kindheit denken. Filme, in denen Kinder nicht ernst genommen wurden, die sich auf eigene Faust organisierten und sich entgegen aller Erwartungen beweisen konnten. Die mit Kreativität und einer Prise Glück die absurdesten und spannendsten Pläne schmieden konnten. Gruppen von Kindern, deren Freundschaft und Zusammenhalt sie alles schaffen ließ. Wer schaute nicht begeistert zu diesen Kindheitshelden auf? Mit diesen nahezu perfekten Freundschaften? Die für ihre eigenen Überzeugungen kämpften? Wer wünschte sich nicht, zu einer solchen Gruppe zu gehören? Und Teil von etwas Größerem zu sein? Ich war beeindruckt von den Kindern und Jugendlichen, unter denen ich mich befand. Jede:r von ihnen könnte Protagonist:in in dem nächsten gefeierten Kinderfilm sein, der in der ganzen Bundesrepublik in allen Kinos rauf und runter laufen würde. Meine Kindheitshelden waren real geworden.
Ich frage mich, warum die Gesellschaft in den jungen Menschen von FFF nicht die von uns allen geliebten Kindheitshelden sieht. FFF ist nämlich gar nicht so anders als diese Kindheitshelden. Auch diese jungen Menschen haben sich ein großes Ziel gesetzt. Nur sind jetzt die wahnwitzigen Pläne aus den Filmen bei FFF in der Realität inzwischen zu einer immensen Organisation von Demos geworden, mit vorherigen Streckenbegehungen, Versammlungsanmeldungen, professionellen Bühnen, Mikrofonen, Lautsprechern und Lautsprecherwagen, Streaming-Equipment, Walkie-Talkies, dem Handling von Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Arbeitsgruppen, Plenumssitzungen, Videokonferenzen, Orgagruppen und zusätzlichen Workshops, Interventionen und Reden vor namhaften Akteur:innen der Politik und der Automobilbranche.
Doch im Gegenteil: Was die Kinderfilme aus meiner Kindheit nicht erzählen, ist das Stalking, sind die Hasskommentare und Anfeindungen, denen sich nun die real gewordenen Helden stellen müssen. Als Preis für ihre Arbeit an der Rettung der Welt. Der kleine, immer größer werdende Kampf, den sie führen, allein durch die Überzeugung, wirklich etwas bewirken zu können, wird hart von der Realität getroffen. In der Dokumentation Aufschrei der Jugend – Fridays for Future erfahren wir, was das bedeutet: Jugendliche werden angepöbelt und bespuckt und wagen sich deshalb nicht mehr allein auf die Straße. Beschimpfungen, Beleidigungen, Hass-Mails bis hin zu Morddrohungen. Wie kann es sein, dass minderjährige Kinder und Jugendliche, deren einziger Wunsch es ist, etwas Gutes für sich selbst und die Gesellschaft zu tun, mit einem solchen Hass konfrontiert werden?
Dabei sind die Forderungen der Bewegung überhaupt nicht utopisch. Ganz legitim wird durch FFF die Politik in die Verantwortung genommen, um für die Einhaltung und Umsetzung des Pariser Weltklimaabkommens zu sorgen. Die Bewegung will nicht gewalttätig sein. Es geht nicht um eine Revolution oder den Umsturz eines Systems. Deshalb haben sich nach den Schüler:innen auch weitere Gruppen den Forderungen angeschlossen: Studierende, Umweltverbände, Gewerkschaften und auch Wissenschaftler:innen unterstützen die Bewegung. Viele junge Menschen sind durch die Bewegung politisiert worden und haben bewirkt, dass das Thema Klimaschutz zwischenzeitlich hoch auf der politischen Agenda steht. FFF hat ein Thema auf die Tagesordnung gesetzt, an dem niemand mehr vorbeikommt.

Vielleicht ist gerade das der Grund, warum die Klimaaktivist:innen Bedrohungen und Anfeindungen ausgesetzt sind. Vielleicht ist es auch nur die Hilflosigkeit und die Erkenntnis all derer, die merken, dass Überschwemmungen, Wasserknappheiten und Hitzewellen hunderttausende Menschen bedrohen. Da hilft es auch nichts, dass rechte Parteien den Klimaschutz zur Zielscheibe gemacht haben und Klimaaktivismus offen angegriffen wird. Wir alle sehen täglich die Auswirkungen des Klimawandels.
Selbstverständlich kann Deutschland allein die Klimakatastrophe nicht abwenden. Arbeitsplätze für Kohle und andere fossile Energien können den Menschen nicht von einem Tag auf den anderen weggenommen werden. Und ja, unsere Wirtschaft muss wettbewerbsfähig bleiben, damit die Menschen in unserem Land weiter gut leben können. Natürlich sind viele Aktivist:innen von FFF jung und vielleicht haben sie noch keine großen Lebenserfahrungen machen können, aber sie stehen ein für die richtige Sache. Sie streiten für ein hohes Gut. Eine lebenswerte Zukunft auf unserem Planeten.
Deshalb macht es mich nach wie vor stolz, die Filmszene aus der Geschichte Emil und die Detektive jetzt real miterleben zu können. Dass Kinder den Schritt aus einer fiktiven Welt auf der Leinwand hinein in die Realität geschafft haben. Und jetzt frage ich: Die Fünf Freunde, Die drei ???, Die wilden Kerle, Die Wilden Hühner, Die Pfefferkörner, Die Vorstadtkrokodile … oder Fridays for Future. Wer sind die wahren Helden?
Vielleicht gibt es irgendwann wirklich einen Kinderfilm, der die Geschichte einer jungen, aber dafür nicht weniger mutigen Generation erzählt, die die Straßen aller Städte erobert und die es tatsächlich geschafft hat, unsere Welt zu retten.
Und bis es so weit ist, gehe ich zum nächsten Klimastreik. Sehen wir uns da?