[Vortrag von Volker Pantenburg, gehalten im Rahmen des Schreiblabors am 13. Juni 2024]
I. "videogruppe“
Wenn ich das Wort „videogruppe“ in das Suchfenster meines E-Mail-Programms eingebe, erscheinen 264 Emails auf dem Bildschirm. Die erste, Absender Michael Baute, ist auf den 2. Dezember 2003 datiert. Sie lautet so:
Die letzte, Absender Ekkehard Knörer, stammt vom 6. April 2008. Ekkehard bezieht sich auf die Formulierung „Untote leben länger“ in meiner Einladungsmail nach einer mehrmonatigen Unterbrechung. Er schreibt in aller Kürze:
Die 262 Emails zwischen diesen beiden Nachrichten enthalten Einladungen und Absagen, Vorschläge, welcher Film gemeinsam geschaut werden könnte, ab und zu Ideen für Aktivitäten außerhalb der Videogruppentermine. Gelegentlich streuten wir Exkursionen ein, guckten im Kino Arsenal am Potsdamer Platz einen Film von Raoul Walsh oder verwandelten die Videogruppe in ein EM-Studio, um das Spiel Frankreich – Deutschland zu schauen.
Im Verteiler waren ca. 15 Personen, im Endeffekt waren wir meist etwa fünf Teilnehmer*innen. Wenn es gut lief, fanden die Treffen zweiwöchentlich statt, es gab aber auch immer wieder längere Pausen.
II. [Versammlung]
Wer ist oder wer war dieses Wir? Um was für eine Versammlung handelte es sich? Viele der beteiligten Personen hatten in den 1980er und 1990er Jahren Film an der „Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin“ (DFFB) studiert. Das gilt für Ludger Blanke, Stefan Pethke, Wolfgang Schmidt und Michel Freerix. Keiner der vier konnte nach der Filmakademie regelmäßig weiter als Regisseur arbeiten – dabei gehören Filme wie Wolfgang Schmidts Cannae (1989) und Navy Cut (1992), Michel Freerix‘ Chronik des Regens (1990), oder Ludger Blankes Reporter (1991) zu den außergewöhnlichsten Filmen der späten 1980er und frühen 1990er Jahren. Sie sind nie auf DVD erschienen. Gelegentlich werden sie gezeigt, aber anders als ihre Kommilitonen aus diesen DFFB-Jahrgängen, Thomas Arslan, Christian Petzold und Angela Schanelec, die als Berliner Schule kanonisiert wurden, sind Schmidt und Freerix durch die Maschen der Filmhistoriografie gefallen. Sie haben, könnte man sagen, auf andere Weise weiter Filme gemacht – unter anderem in ihrem Schreiben.
Anna Faroqhi, Absolventin der HFF München, nahm bis zur Geburt ihrer Tochter häufig an der Videogruppe teil, gelegentlich war auch Andreas Mücke-Niesytka dabei, der bis heute als Tonmann regelmäßig mit Christian Petzold zusammenarbeitet. Hans Fromm, Kameramann bei Petzolds Filmen, war zwar im E-Mail Verteiler, konnte aber nur sehr selten kommen. Noch seltener die Regisseure Ulrich Köhler und Henner Winckler. Ulrich, erinnere ich mich, hatte Blissfully Yours (2002) von Apichatpong Weerasethakul mitgebracht, der 2002 in der Sektion Un certain regard in Cannes gewonnen hatte. Es war aufregend, diesen schwer erhältlichen Film zu sehen, eine Entdeckung für alle. Der Vorspann, mehr als eine halbe Stunde nach dem Anfang des Films, hat uns geschockt. Wir hatten Schwierigkeiten, den Namen des Regisseurs auszusprechen.
Neben den genannten ʻEnthusiastenʼ, deren Filminteressen eng mit der Filmpraxis verbunden waren, gab es andere, die vom Schreiben kamen, und zu denen ich mich genauso wie Michael Baute zählen würde. Ekkehard Knörer hatte 1998 die Website jump cut gegründet, auf der er seine umfangreichen Filmsichtungen im Kino und anderswo protokollierte, er schrieb an einer Dissertation zum Witz in der Romantik. Simon Rothöhler studierte Filmwissenschaft an der FU Berlin. Ich selbst unterrichtete zwischen 1998 und 2006 Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Münster. Wie so oft, wenn es um cinephile Gruppenbildung geht, ist das männliche Übergewicht in dieser Aufzählung erdrückend. Immerhin: Neben Anna Faroqhi kamen manchmal die Cutterin Bettina Blickwede und Sophie Horvath, und Stefanie Schlüter und Stefanie Diekmann waren eigentlich immer dabei – wir waren kein hermetischer Männerclub.
III. [Filme sehen, ca 2005]
Zum lockeren Kollektiv der Videogruppe gehören einige Rahmenbedingungen, die ich kurz skizzieren möchte. Dass sich verschiedene Praxisinteressen trafen, hatte ich schon erwähnt: die Praxis des Filmemachens, die Praxis des akademischen und paraakademischen Schreibens, vor allem aber: die Praxis des genauen Hinschauens und Sprechens. Damit das gelingt, müssen einige Voraussetzungen gegeben sein:
(1) Punkt 1 betrifft den Zugang: Auch wenn man im Jahr 2004 nicht mehr mit dem Nachtzug aus München nach Paris fahren musste, um den neuen Godard zu sehen (dreimal hintereinander ins Kino, abends zurück, wie Enno Patalas sich an die frühen 1960er Jahre erinnert), waren Filme vor 20 Jahren nicht so leicht verfügbar wie heute. Der Fundus, aus dem die Videogruppe schöpfte, beruhte auf der Vergesellschaftung von Privatsammlungen. Meist waren es DVDs, oft aber auch noch VHS-Kassetten, nicht zuletzt TV-Mitschnitte aus den 80er und 90er Jahren. Kaum zu überschätzen in ihrer Bedeutung: die Amerika Gedenkbibliothek. Die AGB ist eine Zweigstelle der Zentral- und Landesbibliothek Berlin, untergebracht in einem modernistischen Gebäude am Halleschen Tor in Kreuzberg. Der Medienbestand ist phänomenal – nirgendwo sonst wurde das DVD-Angebot so genau gescannt und dann prinzipiell alles angeschafft. Für 10 Euro im Jahr hatte man unbeschränkten Zugang, eine wirklich demokratische Utopie. Um ideale Rezeptionsbedingungen zu schaffen, stattete Peter Delin, der für die AGB-DVD-Sammlung verantwortliche Lektor, irgendwann einen kleinen Raum als Sichtungsraum mit bestmöglicher Technik aus und nannte ihn Das unsichtbare Kino 4 – nach dem ersten „Invisible Cinema“ in New York 1970 und den zwei weiteren Manifestationen des Kubelkaschen Idealkinos im Österreichischen Filmmuseum in Wien.
Eine Trivialität: Es ist unmöglich, über Filme zu schreiben, wenn sie nicht vorliegen und gesehen werden können. Für diesen wichtigen Schritt sind Kuratorinnen und Kuratorinnen zuständig, die Filme recherchieren und – ganz buchstäblich – anschaffen. Dies gilt nicht nur für das Kino, sondern auch für alle folgenden Medien und Dispositive. Von Henri Langlois und Lotte Eisner an der Cinémathèque Française, von Amos Vogel oder Jonas Mekas in New York, von Alf Bold oder Erika und Ulrich Gregor in Berlin, von Winfried Günther in Frankfurt führt eine direkte Linie zu Peter Delin, dem Videolektor an der Berliner Zentral- und Landesbibliothek und dessen Nachfolgerin Anna Bohn. Auch die anonymen und ehrenamtlichen Arbeiter im infralegalen Schattenreich von Karagarga und anderen Torrent-Trackern müssen erwähnt werden, die erste Dekade des 21. Jahrhunderts sah auch die Entstehung einer Cinephilia 2.0., dezentral, vernetzt, auf Tausch von Filmen und Informationen basiernd. Aber der Zugang allein reicht nicht. Wie wir alle wissen, müssen auch kuratorische Entscheidungen hinzukommen – Entscheidungen, die aus dem, was anzuschauen möglich wäre, den einen Film heraussuchen, auf den sich dann alle Augen und Ohren für 70, 90 oder 120 Minuten richten, an die Wand projiziert oder auf dem Fernseher.
(2) Auch Punkt 2 hat mit Berlin zu tun. Neben der AGB möchte ich zwei Institutionen erwähnen, an denen sich seit den 1960er Jahren ein besonderes Umgehen mit Filmen entwickelt hatte – Filme zeigen und programmieren, Filme studieren, Filme machen. Seit 2001 waren beide, das Arsenal sowie das damit eng verbundene Forum des Internationalen Jungen Films und die DFFB, unter dem gleichen Dach, im Filmhaus am Potsdamer Platz. Ende dieses Jahres löst sich das Filmhaus auf.
An der DFFB gab es einen besonderen Seminartypus, der die oben genannten Filmemacher in der Videogruppe geprägt hat. Er wurde von Harun Farocki, Hartmut Bitomsky und Helmut Färber in den 1980er und 1990er Jahren angeboten. Färber unterrichtete auch an der HFF München. Über Färbers Seminare dort hat der österreichischen Filmemacher Gerhard Friedl einen Essay mit dem Titel „Ein Herangehen von Helmut Färber“ geschrieben. Für mich zählt er zu den schönsten Texten über das gemeinsame Sehen von und Sprechen über Filme. Ich zitiere daraus einige Passagen (das Heft ist als PDF auf der Website des Harun Farocki Instituts herunterzuladen). Hier der Anfang:
„Helmut Färber unterrichtet Filmgeschichte. Er weist dabei den Weg zu einem materialistischen Verständnis von Kino. Eine seiner – wenn man so will – Methoden findet sich am Schneidetisch angewandt. Über mehrere Tage hinweg sehen wir einen Film, Stück für Stück. Dabei wird langsam vorgegangen. Man fährt den Film 2 Minuten vor, dann zurück, dann, weniger, bloß eine Minute usw. Einer der Leute bedient den Tisch. Der oder die entscheidet, was herausgearbeitet wird. Man spricht darüber, und man untersucht weiter. Man löst sich ab. Hat einer eine Idee, wird gesehen, ob die hält. Wir bleiben nahe am Film. Der Maßstab, der entwickelt und angelegt wird, ergibt sich erst aus der Untersuchung des Films selbst. Wir gehen mit einem Gedanken weg vom Gesehenen und sehen dann, ob er, zurückgebracht, dem Film entspricht. Was dabei Platz hat, ist die Neugierde. Und, dass wir Zeit haben.“
Und etwas später, weiterhin aus der Perspektive eines emphatischen Wir:
„Wir lernen, indem wir Kräfte, die auf die Materialien und die Erscheinung eines Films gewirkt haben, aus ihren Ergebnissen herauslesen. Filmisches Denken, anders als begriffliches Denken, steckt zu einem guten Teil implizit im Spiel der Kräfte, die in einem (und dann durch einen) Film bemerkbar sind. Dieses eingebundene Denken soll bei Färber im Nachvollzug des materiellen Gefüges des Filmes rekonstruiert werden. Gegenüber dem begrifflichen Nachvollzug im üblichen filmkritischen Betrieb erscheint diese Herangehensweise schwach. Damit ist gemeint, dass dieses Erkennen von Film nicht triumphal gerät.“
„Nicht triumphal“ – diese Zurücknahme, Vorsicht und Bescheidenheit ist neben dem kollektiven Charakter für mich entscheidend. Jedes Schreiben über Film schafft Relationen, und Relationen sind immer auch Ausdruck von Symmetrien oder Asymmetrien, von Hierarchien und Machtgefällen. Schreiben über ist etwas anderes als Schreiben mit oder Schreiben aus etwas heraus. In Texten von Frieda Grafe, Gilberto Perez oder anderen sind solche Aushandlungsprozesse zwischen Film und schreibendem Subjekt zu beobachten, im Idealfall geht es nicht um Beherrschung und Kontrolle. Kein funktionales Verhältnis, eher eine weiche Montage – dort der Film, der für sich in seiner Klarheit und Rätselhaftigkeit bestehen bleibt, hier der Text, der seinerseits klar und rätselhaft zugleich sein kann. Im Hintergrund: vielfältige Arbeitsverhältnisse, eigentlich alle davon kollektiv und nur scheinbar individuell: Hinter und im Film, in der Filmerfahrung, schließlich in der Transformation von Gesehenem in Geschriebenes.
Färber unterrichtete im Januar 2005 sein letztes Seminar an der DFFB, ich mischte mich als Externer unter die wenigen Besucher, wie das an der DFFB nicht unüblich war. Es ging um Nicht versöhnt von Danièle Huillet und Jean-Marie Straub. Zwei Wochen lang schauten wir den Film abwechselnd Einstellung für Einstellung am Schneidetisch und dann wieder in der Projektion. In einem seiner außergewöhnlichen Bücher beschreibt Färber diese Methode so:
„Das Sehen und nocheinmal Sehen der Filme in Vorführungen, das Anschauen am Schneidetisch und alles Reden dazu, mit- und gegeneinander, das Lesen, Notieren, Vorlesen, Bedenken, Berichtigen, Formulieren, alles ist ganz aus und mit der Gegenwart der Filme selber geschehen, ganz in ihrer Nähe, während sie immer dabei waren, und führte von selber immer wieder zu ihnen hin, und manchmal mit ihnen und durch sie hindurch ins Unerwartete und in eine Weite.“1
(3) Noch einen dritten Punkt will ich erwähnen: Bei vielen von uns gab es eine Lust am Text, wie Roland Barthes das genannt hat, den drängenden Wunsch, das Gesehene in irgendeiner Weise in Gedanken und Sprache zu transformieren. Das Weblog new filmkritik – der Name ist eine Referenz an die 'alte' Filmkritik, vor allem der 1970er Jahre – war das niedrigschwellige Milieu, in dem ein solches Schreiben stattfinden konnte - eine zumindest für mich wichtige Manifestation der 'Kulturtechnik des Versammelns'. Hinzu kamen Filmgespräche in der Wochenzeitung jungle world und später der Wiener Zeitschrift kolik.film
Peter Praschl hat über die frühe Zeit der Weblogs – Ende der 1990er Jahre, Anfang der 2000er Jahre – einmal geschrieben, die Blogs hätten zu Formen des Schreibens geführt, die an das Ein- und Ausatmen erinnern, weit weg von der Warenförmigkeit. Wichtig dabei: Keiner von uns war professioneller Filmkritiker – das Schauen und Sprechen fand ohne ökonomische Verwertungsabsicht statt. Das ist der utopische Aspekt an der Folgenlosigkeit, von der in André Bazins Zitat im Titel meines Vortrags die Rede ist: Von einer Brücke ins Wasser spucken (oder, wo grad kein Fluss da ist, auf die Autobahn): die meisten kennen die kindliche Freude daran. Es ist ein acte gratuit, bei dem seine Vergeblichkeit den Spaß bedingt.
Auch beim Schreiben im Netz – jedenfalls bis ca. 2008 – entstand nichts, das monetarisierbar wäre – nichts, das eine Dividende in realer oder kultureller Währung abgeworfen hätte. Auch das ist nicht zu heroisieren: Keine Verwertungsabsicht zu haben, muss man sich leisten können. Es ist ein Privileg, dessen Rückseite oft in der Prekarität freier und unabgesicherter Arbeitsverhältnisse besteht.
Mit dem Videogruppenzusammenhang verbinden sich drei verschieden Schreibformate: die Filmgespräche, die 100 Wörter-Texte, und, darum soll es vor allem gehen, die Minutentexte.
Als Übergang an dieser Stelle eine kurze Schreibübung. Fünf Minuten Zeit, um über eine Minute Film 100 Wörter zu formulieren – ausgewählt: eine Minute aus The Night of the Hunter, die nicht unter den zur Vorbereitung auf die Sitzung zu lesenden Minuten war.
IV. [Minutentexte]
Warum Minuten? Warum The Night of the Hunter? Die Idee, eine einzige Minute aus einem Film herauszulösen, geht auf den Kölner Schriftsteller Thorsten Krämer zurück. Für eine kurze Phase schrieb er bei new filmkritik mit. Einer seiner Texte, gepostet am 4. August 2004, trägt den Titel „Die 53. Minute: California Split (Robert Altman, 1974)“ – ein knappes Schlaglicht auf diesen Moment im Film. Wenn ich es richtig in Erinnerung habe, sollte dies der Auftakt dazu sein, bei diversen anderen Filmen immer die 53. Minute genauer anzusehen und darüber kurze Texte zu verfassen.
Die etwas stumpfsinnige Kontingenz dieser Entscheidung – ohne Rücksicht auf den Inhalt immer stur die 53. Minute auszuwählen – gefiel uns. Das Hauptmotiv hinter unserem Buch war allerdings ein anderes: Im Kino, und gerade im klassischen Studiokino, treffen die unterschiedlichsten Formen der Filmintelligenz zusammen, damit ein Film entsteht. André Bazin hat vom Genius of the System gesprochen, um Hollywood zu charakterisieren. Anders als es die französische Autorenpolitik in polemischer Absicht behauptet hat, geht es gerade nicht um geniale Regisseure mit ihren außergewöhnlichen Ideen, sondern um das Ineinandergreifen von Drehbuch, Kamera, Schnitt, Ton, Kostüm, Beleuchtung, Produzentenideen, Widerständen und Zwängen und vielem mehr.
Merkwürdigerweise bleibt diese Form der Schwarmintelligenz, die den Normalfall des industriellen Filmemachens darstellt, auf der Seite der Rezeption – des Schreibens – so gut wie unsichtbar. Es schreibt eigentlich immer eine Person über einen Film. Der Reichtum an Ideen, Perspektiven, Assoziationen, der in den unterschiedlichen Blicken auf einen Film liegt, wird nicht aktiviert. Daher simple Grundidee: ein Film mit soundso vielen Minuten Länge – und genauso viele Autorinnen und Autoren, die sich voll und ganz je einer Minute dieses Films widmen. Dass The Night of the Hunter der richtige Film für diese Methode sein könnte, wurde uns erst nach längerem Überlegen (und einem Testlauf unter Freunden) klar. Eine Weile tendierten wir zu Filmen wie Max Ophüls‘ La Ronde (1950) oder Robert Bressons L’Argent (1983), in deren Erzählung ein Reigen unterschiedlicher Akteure auftritt. Zu Tode kanonisierte Filme wie Citizen Kane (1941) oder Vertigo (1958) kamen nicht in Frage, niemand sollte in die Verlegenheit gebracht werden, gegen Regalmeter von Sekundärliteratur anschreiben zu müssen. The Night of the Hunter hingegen ist eine Art geheimer Lieblingsfilm, nicht nur für französische Cinephile (Jacques Rivette hat den Film „den verblüffendsten Meteor der Filmgeschichte“ genannt, in Godards Histoire(s) du cinéma (1988–1997) wird kein Film so lang am Stück gezeigt und so wenig angetastet. Eigentlich jede und jeder, den und die wir einluden, kannte und schätzte den Film.
Hinzu kommt, dass bei diesem Film das Missverhältnis besonders eklatant war: Laughton, bekannt als Schauspieler und für seine Stimme, hat nur diesen einen Film als Regisseur verwirklichen können. Diesem einzigen Film gleich 93 kleine Texthuldigungen zukommen zu lassen, erschien uns in ihrer Disproportionalität eine schöne Geste. Aber auch inhaltlich lässt sich die Auswahl gut begründen. Alle, die den Film kennen, wissen, wie viele unterschiedliche Schichten – filmästhetisch, aber auch filmhistorisch – in ihm stecken. Lilian Gish, Robert Mitchum, dem Kameramann Stanley Cortez und der expressionistischen Bildgestaltung Film noir, bis hin zu zahlreichen popkulturellen Referenzen in Musik und Film - etwa in Spike Lees Do the Right Thing (1989).
Für das Buch Minutentexte gelten die gleichen medialen Voraussetzungen, die ich oben für die Videogruppe beschrieben habe. Es konnte erst zu einem Zeitpunkt entstehen, an dem der Film The Night of the Hunter auf DVD vorlag. Wie sonst hätten wir den Film sekundengenau in 93 Einzelminuten teilen sollen, um diese Minuten dann unter den Autor*innen zu verlosen? In der Praxis hieß dies, jeder Autorin und jedem Autor eine DVD zuzuschicken (oder per Fahrrad vorbeizubringen), auf der jede Minute als eigenes Kapitel anwählbar war. Jede Minute wurde dadurch zu einem Kurzfilm. Das zeigt sich auch in den Texten, die wir bekamen – nicht wenige schrieben „meine Minute“, da sie die 60 Sekunden als Dauerloop geschaut hatten und ein inniges Verhältnis zu diesem Puzzleteil aus dem Film entwickelt hatten. Wer über eine Minute schreibt, muss über das Verhältnis von Fragment und Ganzem nachdenken – am vertrackten Hin und Her zwischen beiden Größen haben sich die Romantiker abgearbeitet, die intellektuelle Pendelbewegung ist ein Kernstück der Hermeneutik. Das Anhalten, Wiederholen, Verlangsamen ändert zudem den Charakter des Zuschauens, wie Laura Mulvey 2006 schrieb: „With electronic or digital viewing, the nature of cinematic repetition compulsion changes. As the film is delayed and thus fragmented from linear narrative into favourite moments or scenes, the spectator is able to hold on to, to possess, the previously elusive image.“2 Für Mulvey liegen hier neue Möglichkeiten, ein „possessive spectator“ wird möglich.
Was wir uns von dem Verfahren erhofften, war eine große Nähe zwischen Text und filmischem Material – 60 Sekunden Film, das lässt sich bewältigen, in ca. 5.000 Zeichen (so unsere Vorgabe), lässt sich einiges, aber sicher nicht alles über die Bilder, die Erzählung, die Töne, die Bewegungen der Körper sagen.
Ich bin ein großer Fan von Büchern (oder Texten), die sich in manchmal obsessiver Form um einen einzigen Film kümmern – oder, fast noch besser, um deutlich kleinere Teilstücke eines Films. Thierry Kuntzel, der den Anfang von Fritz Langs M (1931) oder von Shoedsacks/Pichels The Most Dangerous Game (1932) minutiös seziert; erneut Helmut Färber über drei Minuten in einem Film von Ozu, oder über die ersten 47 Einstellungen von Ozus Soshun (1956); Raymond Durgnats Monografie „A good hard look at Psycho“ (2002); Alfred Guzetti über Godards Deux ou trois choses que je sais d’elle (1967). Interessanterweise sind all diese Texte und Bücher erschienen, bevor es DVDs, BluRays oder Streaming gab. Es sind Schneidetischbücher – so wie Minutentexte ein DVD-Buch ist.
Die Zeit zwischen Schreibauftrag an die 92 anderen Autor*innen und dem Eintreffen der Texte gehört zu den schönsten Phasen, an die ich mich in meinem bisherigen Bücherleben erinnere. Große Spannung, wie die Beauftragten mit der merkwürdigen Aufgabenstellung umgehen würden. Neugier, auch generell, ob die Idee tragfähig sein würde. In welche Richtung würden die Autor*innen gehen? Würden sie sich auf die Erzählung konzentrieren? Oder auf die filmischen Operationen? Inwiefern lässt sich über eine Minute eines Films schreiben, ohne „übergriffig“ zu werden und auf die benachbarten Minuten oder den ganzen Film einzugehen? Wir hatten in unserer Einladung keinerlei Verbote ausgesprochen, aber doch eine freundlich gemeinte Art moralische Ermahnung untergebracht: Denkt dran, dass es 92 andere Texte zum gleichen Film geben wird – geht verantwortlich mit diesem Wissen um die Kollektivität des entstehenden Texts um.
V. [Beim Verlassen des Kinos]
Videogruppe, new filmkritik, Minutentexte – das sind für mich drei Sprachformen, die aus kollektivem Filmesehen hervorgegangen sind – eine privat, eine als Weblog, eine als klassisches Buch, dem zwei Jahre später noch ein Hörspiel folgte.
Zum Schluss will ich diese Sprachmodi auf eine nochmals einfachere und zugleich grundlegendere Kulturtechnik beziehen. Jede und jeder kennt die Gespräche, die sich unmittelbar nach dem Kinobesuch vor dem Kino abspielen: Teils Rekonstruktion des Gesehenen und Klärung von offenen Fragen, teils erste Einschätzungen, wo man sich in Bezug zum Film verortet: Wie er einem gefallen hat, was einen angezogen oder abgestoßen hat. Es ist ein tastendes gedankliches und sprachliches Vorgehen. Die Nähe und Distanz zum Gesehenen einerseits, zu den Haltungen der anderen andererseits wird permanent neu justiert, aus den lockeren, meist noch vorsprachlichen Eindrücken schälen sich allmählich Formulierungen heraus. Dabei geht es nie nur um mich und den Film – es geht auch um alle vorher gesehenen Filme und um die Konstellation von Leuten, die dort zusammenstehen. Suspense-Effekte: Wer wird als erstes etwas sagen? Was steht mit dieser ersten Äußerung im Raum, geht es den anderen ähnlich wie mir oder bin ich in der Minderheit, vielleicht sogar die einzige Person, die den Film mochte? Wenn ja, wie kann ich ihn verteidigen? Will ich das überhaupt? Oder sind die Beobachtungen und Argumente der anderen viel einleuchtender? Kann ich meiner Erinnerung an den gerade gesehenen Film trauen?
In diesem unscheinbaren Ereignis – dem Gespräch vor dem Kino, das sich natürlich in die Kneipe verlängern kann und soll – ist die großartige Besonderheit der Kulturtechnik 'Kino' abzulesen, die sich in dieser Hinsicht einreiht in den Theaterbesuch oder das Konzerterlebnis – mit dem Unterschied, dass die Eindrücke hier überprüfbar sind; ich könnte in die nächste Vorstellung gehen oder mir den Film, wenn es ihn schon schon auf DVD oder BluRay gibt, in einem anderen Medium ansehen. Vieles von dem, was ich mit Blick auf die Situation vor 20 Jahren gesagt habe, hat mit dieser Kinoerfahrung zu tun. Zweimal haben wir – eine Splittergruppe der Videogruppe – dem nachgespürt in Gesprächen „Ein Tag im Cineplex“ und „Ein Tag im Arthouse“.
VI. [Schluss]
Was bleibt? Im Nachhinein wundert es mich nicht, dass die videogruppe 2008 aufhörte zu existieren – ohne Beschluss oder Dekret, eher im Modus des langsamen Ausplätscherns: Viele der Teilnehmer*innen machten in anderen Zusammenhängen weiter: Simon Rothöhler und Ekkehard Knörer gründeten gemeinsam mit Bert Rebhandl und Erik Stein die Zeitschrift CARGO, deren erste Ausgabe 2009 erschien. Niemand – zumindest ich nicht – hätte gedacht, dass sie 15 Jahre lang und inzwischen 63 Ausgaben lang existieren würde.
Stefan Pethke, Michael Baute, Stefanie Schlüter und ich widmeten uns dem Projekt Kunst der Vermittlung, bei dem wir das spekulative Genre des „Filmvermittelnden Films“ als Vorform des „Videoessay“ in Deutschland, Frankreich und Österreich erforschten. Den Verein, den wir dafür gründeten, nannten wir Entuziazm, wie Dziga Vertovs Film aus dem Jahr 1931. 2008 verbrachten wir im Sommer viel Zeit damit, einen kurzen „filmvermittelnden Film“ für die DVD von John Cooks Langsamer Sommer zu produzieren – eine Art Überführung der Videogruppe in die videografische Praxis. Auch wenn es das Weblog new filmkritik immer noch gibt, schien mir 2008 die euphorische Phase des Schreibens im Netz bereits vorbei. Im November stellte ich bei der Veranstaltung „Schreiben im Netz“ einen etwas melancholischen Text vor, aus dem die Desillusion herausklingt. „Das Schweigen der Weblogs ist unterbewertet“. Da heißt es unter anderem:
„In der Zwischenzeit hat mit der breiten Wahrnehmung und der quantitativen Explosion der Blogs auch eine Verwertungslogik eingesetzt, die ein tastend-euphorisches Schreiben in den Blogs seltener macht. Ich nenne kurz drei Erscheinungsweisen: Es gibt die Werbebanner und Anzeigen, die Links zu »amazon« und sonstwohin. Das ist die immerhin transparenteste Form der Ökonomisierung. Angeblich verdient man als Seiteninhaber dann ein paar Cent, wenn jemand clickt. Es gibt zweitens die Institution des LINKTAUSCHS, wo das Ökonomische schon unangenehm ins Soziale kippt. Per Sammelmail wird man gefragt, ob man nicht auf diese und jene Seite verlinken möchte, dann werde man im Gegenzug ebenfalls verlinkt. (Vorgestern morgen im Radio erinnerte Alexander Kluge im Zusammenhang seiner Marx-DVD an Adam Smiths Bemerkung, er habe noch nie zwei Hunde Knochen tauschen sehen.) Und es gibt drittens, schwerer zu beschreiben, haufenweise Texte, die exakt so klingen, als seien sie für das Feuilleton der FAZ gedacht, aber nun halt aus FAZ-Mangel hier gelandet. Manche Filmseiten wirken von A bis Z wie ein perpetuiertes Bewerbungschreiben.“
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Auch das ist jetzt mehr als 15 Jahre her, und es soll im Jahr 2024 nach Möglichkeit keinen Boomer-Pessimismus verbreiten. Es stellt eher die Frage, welche Versammlungsformen sich heute um die Filme herum herausbilden. Sicher sind sie genauso konstitutiv für die Biografien, genauso generativ, wenn es um die Übersetzungen von Film in Text geht. Schon damals existierten ja unterschiedliche Biotope nebeneinander her – die REVOLVER-Leute um Christoph Hochhäusler, die losen Wiener Zirkel um kolik.film, Viennale und Österreichisches Filmmuseum und weitere mehr.
Twitter, Instagram, Facebook – aber auch Tools wie Etherpad, Google-Docs. Darüber hinaus ChatGPT: Im Prinzip ist kollektive Textpraxis heute leichter denn je. Wenn die Minutentexte eine Art Flaschenpost aus dem Milieu der pre-social-media Cinephilie sind, welche Versammlungsformen entstehen jetzt gerade? Ich bin gespannt auf das Gespräch.