Keine Kinobesuche

Die Liebe bleibt verschlossen!

Fabian Mockel
Vorhängeschlösser an einem Brückengeländer in Frankfurt
Die Liebe bliebt verschlossen (Frankfurt/Main, © Fabian Mockel)

In Italien hat sich zur Abgrenzung gegen den Faschismus der Neorealismus herausgebildet. Deutschland hingegen hat seit nunmehr achtzig Jahren ein Filmkulturproblem. Diese Misere der deutschen Kinokultur hat viele Vorgeschichten: die braune Katastrophe, der Umgang mit dieser nach 1945 - und eine Serie kulturpolitischer Entscheidungen bis heute hinauf. Auch die Generationen nach der Wiedervereinigung trotten immer noch in dieselben miserablen Filme.

Kino wäre doch so viel mehr als irgendein anderer Ort: eine Stätte, die Fantasie anzuregen, wo wir der Kraft der Bilder ausgeliefert sind und der Film auf uns wirkt. Film ist das Medium und die Kunst, Menschen zusammenzubringen, zuvor nicht Gesehenes erfahrbar zu machen - und aus sich heraus Gedanken anzuregen. Dafür braucht Film allerdings einen Resonanzraum: Das sind wir, das Publikum.

„Filme sind Spiegel der bestehenden Gesellschaft“, hat Siegfried Kracauer geschrieben.1  So gesehen kann ich die Nicht-Zuschauer*innen in Deutschland auch verstehen. Warum so viel Geld für ein Kinoticket und etwaige Verköstigung ausgeben, wenn ich sowieso nur enttäuscht werde. Wenn deine Enttäuschung meiner gleicht, weil es immer das Gleiche zu sehen gibt und keine anderweitige Auseinandersetzung mit dem Medium angeboten wird. Adäquat und intensiv. Wie sollen wir lernen Ästhetiken zu erkennen und beschreiben, wenn wir nicht mal sehen können?

Erleuchteter Kinosaal, dürftig besucht, mit vielen leeren, blauen Sitzplätzen
NDR: 'Publikumsschwund: Wo sind die Gäste in Konzerten und Theatern' (2022, Foto unbekannter Urheber, https://www.ndr.de/kultur/buehne/Publikumsschwund-Wo-sind-die-Gaeste-Konzerten-und-Theatern,publikumsschwund102.html)

In Italien ist es der Filmästhetik gelungen, gegen den Faschismus aufzubegehren. In Deutschland: Keine Chance. Das Gegenteil. Die Ästhetik der Nazis wurde übernommen und der deutsche Heimatfilm und andere Wellen avancierten zu Kassenhits und Nachahmung. Eine Formel wurde gefunden und eine Konformität so lange hergestellt, bis durch die Vereinheitlichung der endlosen Wiederholung die Idiotie des Publikums beschworen wurde. Wir sehen keine Genrefilme aus Deutschland, nur Komödien über deren Humor man streiten sollte. Aber Filme, die ihre Geschichten auf innovative Art und Weise, zum Beispiel durch eine andere Ästhetik, neue Technik oder Experimente des Schauspielens erzählen wollen, sind so rar wie ausverkaufte Kinosäle. Das Schlimme daran: Es gab schon mal eine Kinokultur mit bedeutenden Filmen und vielen Kinogänger*innen wie Kinos. Das Kino der Weimarer Zeit mit seiner Ästhetik zwischen Licht und Schatten. Der Aufschwung mit der neuen deutschen Welle und dem Autorenkino war ein erster Ansatz zur Verbesserung nach der Nazizeit - und ist heute immer eine Referenz wert, aber sobald es gefeierte deutsche Filme gab, wurden die Macher*innen nur verschmäht, vertrieben oder wanderten zurecht aus, der Freiheit des Filmemachens entgegen.

Keine Experimente, keine Finanzierung, keine Kultur... Der/Die Deutsche - Gibt es sie/ihn überhaupt? (laut Pass schon) - hat es sich selbst verbaut. Hier und da mal eine Oscarnominierung, hier und da mal Preise auf bedeutenden Festivals. Wer schreibt ihnen diesen Wert zu? Welcher Wert? Warum bemessen wir sie überhaupt daran? Eine kurze Meldung in den Nachrichten und dann geht es wieder zurück zum Einheitsbrei der Schweighöfer, Schweiger, M'Barek-Komödien. Wir gehen in die immergleichen Kinofilme und geben den kreativen Köpfen keinen Anreiz, innovative Filme herzustellen. Und wenn wir dann mal wieder talentierte Leute haben. Schwupps: USA. Wann beginnen wir endlich die Ursachen zu bekämpfen? Der treuen Abkehr des eigenen Absatzmarktes entgegenzuwirken und in Schulen, der Freizeit und der Industrie selbst neu über unsere Filmkultur nachzudenken, um die Gesellschaft dahingehend zu fördern. Wir sind doch das Land der Dichter*innen und Denker*innen!? Aber nicht der Kinogänger*innen. Wir rühmen uns doch mit Filmgrößen vor 100 Jahren, mit prosaischen Meistern vor 200 Jahren und einem musikalischem Geniekult vor 300 Jahren! Wir schaffen es aber nicht ins Kino zu gehen und Filmkultur beständig zu implementieren. Sie zu leben. Der Film ist tot bei uns!

Nur hat der Kinofilm keinen Stellenwert mehr bei seinem eigenen Publikum! Natürlich kann ich den Kapitalisten unter den Filmschaffenden nicht verübeln, dass sie sich auf bisherige Erfolge stützen und diese wiederholen wollen. Aber wieso geben wir ihnen denn recht? Sind diese Filme so herausragend wiederholenswert? Warum stürmen wir nicht in die Programmkinos und schauen auch mal in noch unerkundete Filmproduktionen anderer Länder? Von transkulturellen Ästhetiken kann auch eine nationale Kinematografie profitieren. Es ist verwunderlich und bewundernswert zugleich, welche Unsummen in und aus US-amerikanischen Blockbustern fließen. Der Großteil dieser Filme spielt in der Filmhistorie keine Bewandtnis. Auch der Großteil deutscher Filmproduktionen wird vergessen werden, wie auch der Großteil der Blockbuster über deine Netzhaut und Frontallappen vorbeizischt und kein

Wenn wir uns die deutschen Kinostarts der letzten 20 Jahre anschauen, dann ist ein Brandherd festgestellt, der folgende Frage aufwirft: Wer trägt die Verantwortung für die mittelklassigen Krimis, fragwürdigen Komödien und die fehlende Filmauswahl in den Kinos? Ein weiterer Brandherd: Nur rund ein Viertel aller Kinofilme jedes Jahr sind deutsche Produktionen und somit mehr oder weniger freiwillig getragen von Kinogänger* innen und Rundfunkbeiträger*innen. Das deutsche System besteht aus Förderprogrammen, wir haben kein Studiosystem wie die USA hatten oder ein chinesisches Äquivalent der freundlichen staatlichen (Mit-)Finanzierung. 

Tatsache ist: Wir laufen nicht ins Kino. Wir gehen in die immergleichen Filme, der immer selben Produzenten, aus den immer selben Geldern, ohne uns selbst zu hinterfragen, wieso wir dies eigentlich tun. 1,53 Male im Jahr haben wir kein schlechtes Gewissen. Da schauen wir dann also zu 0,31 Mal eine deutsche Filmproduktion.2 Ich freue mich schon sehr auf den zweiten Akt. Wie kann es sein, dass auch die klugen Köpfe aus Deutschland auswandern und nicht an unseren „Elite“-Universitäten gehalten werden können? Wir geben 4,5 % für Bildung und Forschung aus!? Dass keine nötige Infrastruktur vorherrscht, uns aber mit dem vorherrschenden Tenor der Geilheit auf bisherige Erfindungen und Schaffenskraft dieser Kulturstolz an allen Ecken und Enden der Bildung eingehämmert wird, lässt sich anhand der Schullehrpläne bestätigen. Hilft da wirklich ein Kulturpass? Wieso müssen wir die Perlen unseres Mediums weit und breit suchen und lassen das Personal an ihrer Schaffenskraft ertrinken? Es muss doch die Möglichkeit geben, dieses System zu ändern. Wir haben doch fähiges Personal. Immer schon gehabt.

‚Fähiges‘ und funktionstüchtiges Personal gab es in der Nazizeit zuhauf. Dieses Personal wusste, das Medium manipulativ einzusetzen und für ideologische Zwecke zu instrumentalisieren. Dort hatte der Film einen anderen Stellenwert, um das Volk zu erziehen, gleichzuschalten - und die Kriegsmüdigkeit zu drosseln. Doch die tatsächlich fähigen, ästhetisch und politisch zukunftsweisenden Regisseur*innen und Theoretiker*innen (wie Kracauer) wurden von den Nationalsozialisten vertrieben. 

Heutzutage: Angst vor Wiederholung? Trägheit? Interessenslosigkeit? Profitmaximierung? Die Wahl zwischen „Kunst“ oder Kommerz? Der Zweck des Films verschließt sich uns. Ich hätte gerne das Erlebnis, dass ich in einen Film nicht reinkomme, weil der Saal ausgebucht ist. Dass ich vor dem Saal auf die nächste Vorstellung warten und die Mimiken des herausströmenden Pulks beobachten muss, um mir ein Bild von der Faszination des Straßenfegerstreifens machen zu können. Die Imagination noch in den Film zusätzlich hineintragen, mich von meiner eigenen Begeisterung davontragen lassen, die Stimmung, das Gemurmel meiner Besucherkolleg*innen aufsaugen, die Ungewissheit wann es losgeht und die Diskussionen und Interpretationen mit meinen Kinobesucherkolleg*innen - stattdessen sitze ich allein im Kino... Die Kinos sterben und mit ihr diese Kultur. Ein Neuanfang.?!

An der Zugänglichkeit von Bewegtbild mangelt es uns nicht. Wir sind alle schon einmal selbst Regisseur*in gewesen. Reicht dies? Benötigst Du das Kino nicht mehr? Brauchst du keine kollektive Erfahrung an einem Ort mehr; wo unterschiedliche Menschen mit ihren eigenen Biographien zusammenkommen, um einem Event beizuwohnen, dem auch du vollends ausgeliefert bist? Wo du Untertan der Leinwand bist? Bist du gesättigt von Geschichten, Eindrücken, Gefühlen, Räumen, Vorstellungskraft und Seherfahrungen, die auf deinen Körper einprasseln und vorerst keinen eindeutigen Gedanken zulassen, aber Endorphine ohne Ende hinausströmen...Ist das nicht eine Sucht, die häufiger als 1,53 Mal pro Jahr geschehen muss, wenn sie dabei überhaupt auftritt? Trügt mich meine Wahrnehmung in der Affinität der Gesellschaft zur Kultur? Ist Kino überhaupt Kultur? Ist Film überhaupt Kultur? Sind es doch eher materialistische als philosophische oder sinnliche Dinge, die dich befriedigen?

Wenn dem so ist, wie kann das Medium uns vom Gegenteil überzeugen? Wie kann der Film dafür sorgen, dass wir gern zueinanderkommen und uns mit sicherer Ungewissheit freiwillig in einem Raum versammeln. Die Leinwand anbeten, Bilder aufnehmen, sich verschlingen lassen, Teil von ihnen zu sein. Sogar dafür noch bezahlen, um unsere schlimmsten Ängste, erfreulichsten Freuden, unwissenden Sehnsüchte, voyeuristischsten Gedanken vorgeführt bekommen - und unsere eigenen Schlüsse und Erfahrungen zu postulieren. Eine Kraft, noch vor Streaming, noch vor Heimkino, noch vor Video, noch vor Fernsehen, als Menschen in Deutschland noch über dreizehn Mal ins Kino rannten. Diese Kraft wirkt immer noch nach, wenn wir Bewegtbild im und durch das Internet tagein tagaus konsumieren. Und so sitze ich allein im Kino. Die Liebe bleibt verschlossen.

  • 1

    Siegfried Kracauer in: Ders., Das Ornament der Masse. Essays, Frankfurt/Main 1977, S. 279- 294, S. 279.

  • 2

    Diese Zahlen ergeben sich aus den Kino- und Filmergebnissen des FFA Kinojahres der letzten 29 Jahre. Da habe ich zu einem die Zahl der verkauften Gesamttickets mit der Zahl der Tickets gegengerechnet, die für deutsche Filmproduktionen gelöst wurden, und auf einen durchschnittlichen Wert errechnet. Die 0,31 ergeben sich dann aus den durchschnittlichen 1,54 Mal die wir in den letzten 29 Jahren ins Kino gegangen sind und dem durchschnittlich errechneten Wert von ca. 20 Prozent der Tickets, die für einen deutschen Film gelöst wurden.