Aquadom
Im Aquadom zu Berlin lebten einst tausendfünfhundert Fische und über hundert verschiedene Arten. Ein Star inmitten dieser vorsortierten Artenvielfalt war Nemo, der Clownfisch, der durch den Film Finding Nemo (USA 2003) zur unverzichtbaren Aquariendekoration wurde. »Man sollte annehmen, dass die nahezu tierrechtlerische Botschaft des Films die Kinder für alle Zeit der Aquaristik entfremdet hätte. Aber nein, im Gegenteil. Die Nachfrage nach Clownfischen stieg nach dem Kinofilm rapide an.«1 Nemo wurde gefangen genommen, immer und immer wieder, um Befreiungsphantasmen zu füttern. Am Morgen des 16. Dezember 2022 platzte der Aquadom. Wer weiß, wie viele unentdeckte Lebensformen neben den erfassten Arten - unter ihnen zahlreiche Nemos - aus dem Tank geschleudert wurden und dann erstickten oder erfroren oder von einem Auto überfahren wurden oder alles zugleich erlitten. Überall dort, wo uns paradiesische Vielfalt eingebildet wird, ist ein Ort vollends zerstört. Paradiese sind Auslaufmodelle - undicht wie der Aquadom.
Der koloniale Cocktail aus Neonfarben, der sich in Albert Serras Pacifiction (F/E/D/P 2022) in Gestalt eines Nachtclubs auf Tahiti niedergelassen hat, heißt nicht ohne Grund: ›Paradise Night‹. Kolorierung und Kolonisierung sind eng verwoben. Agent Orange, Agent Purple, Agent Green, Agent Pink, Agent White, Agent Blue – das waren die militärischen Codenamen jener chemischen Entlaubungsmittel - auch rainbow herbicides genannt - die von den US-Streitkräften während des Vietnamkriegs eingesetzt wurden. Farben sind somit nicht nur ein Urphänomen der Fantasie. Farben haben eine politische Geschichte, sind Namen, Produkte und Folgen von Einwirkungen, Entstellungen und Brandmarkungen.
Korallenkolonien
Die Kunst des partizipativen Managements besteht darin, Gärten mit Ungleichheitskategorien zu bestellen und diese Verhältnisse als bunte Vielfalt und paradiesische Natur zu verkaufen. In diesen wohlgeordneten Zoos der Diversität - für die Noahs Arche, die höfischen Menagerien des 19. Jahrhunderts oder Barbieland Modell gestanden haben könnte - ist meistens festgelegt, welches Maß an Transgression artgerecht ist, und abgesteckt, wie weit die Inklusion gehen darf - während Artgenoss*innen sterben, die nie und schon gar nicht in ihrer Eigenart und Eigenzeit wahrgenommen wurden. Sind Eigenarten außerhalb von Ordnungen und (kontrapunktischen, komplementären etc.) Gegen-Ordnungen überhaupt sagbar, vorstellbar, wahrnehmbar?
Im Sommer 2023 besuchte ich in Paris das Palais de la Porte Dorée. Es handelt sich um einen Palast, der 1931 im Rahmen der Pariser Kolonialausstellung eröffnet wurde und nun die Cité nationale de l’histoire de l’immigration (CNHI) – das Museum der Immigration nach Frankreich - beherbergt. Eine komplexere Schichtung aus Kolonial- und Dekolonialgeschichte lässt sich kaum ausdenken. Das wird auch im Keller des Gebäudes deutlich: Dort ist immer noch jenes - freilich renovierte, neu bestückte, mehrmals umbenannte - Tropenaquarium zu besichtigen, dessen Eröffnung ins Jahr 1931 datiert. Ausgerechnet an jenem Ort also, an dem die ›Grande Nation‹ einst die Vielfalt der - in den Kolonien abgeernteten - Unterwasserflora und -fauna ausstellte, können wir heute die Biodiversität der bedrohten Korallenriffe (ein letztes Mal?) bestaunen - während noch dazu in den Stockwerken über dem Aquarium die Geschichte der Migration ausgestellt wird. Über die Korallen zu lesen geben die Begleittexte neben den Aquarien teilweise immer noch im Kolonialjargon - etwa wenn von den faszinierenden ›Korallenkolonien‹ zu lesen ist, so, wie im Tiergarten Schönbrunn in Wien die Eisbärenwelt immer noch ›Franz Josef Land‹ heißt. Zoologische Klassen – Abstammungslinien – dienten (dem Adel) immer schon der Einzementierung von Klassenverhältnissen. Die Verflechtungsgeschichte von Nation, Kultur und Natur kann im Pariser Palais de la Porte Dorée ganz besonders eindrücklich studiert werden.
Sammelwut und Neokolonialismus
Außerhalb von Ordnungen – »Paradies› bezeichnet im Altiranischen «wörtlich: Das Umzäunte« –2 ist Vielfalt kaum vorstellbar. Medien sind Operatoren, die Ordnungen der Vielfalt hervorbringen, Differenzen eintragen, (Un-)Sichtbarkeit herstellen. Sichtbarkeit ist mediale Schichtarbeit. Immer aber gibt es Vielfalten, die uns – nein, nicht ausgehen, sondern entgehen, weil sie sich im blinden Fleck unserer Wahrnehmungsapparate befinden. Voir ist pouvoir ist savoir. Sehen ist Macht ist Wissen. »There is violence in being seen. And there is violence in not being seen«,3 heißt es im Video-Essay Ardor (CH 2022) von Flurina Badel und Jérémie Sarbach. Widerstand ist die Technik, sich sichtbar und unsichtbar zugleich zu machen: für manche Augen sichtbar, für andere unsichtbar. In den Falten und Faltungen der Opazität (Édouard Glissant) beginnen andere Augen, andere Sinne eine Vielfalt an Gestalten wahrzunehmen und geheime Zeichen zu entschlüsseln. Nicht alle Vielfalten gehen oder rinnen aus, manche kommen davon, entkommen den Rastern - wie Oktopusse den Aquarien -, weil sie von den Rastern nicht erfassbar sind.
Entscheidend ist, dass es viele Arten von Vielfalt gibt: widerständige und aufgezwungene, sich binär verzweigende, fächerartige, netzwerkartige, multidirektional-tentakuläre, aus- oder eingefaltete, sich aus Interferenzen oder Abständen ergebende Vielfalten, die sich optisch wie taktil, bild- wie datenbasiert vermitteln können. Nicht alle Vielfalten entstehen aus Klassifikationen, sie können sich auch aus unvorhersehbaren Transversalen, aus listigen Fluchtlinien und plötzlichen Abzweigungen – routes statt roots4 – ergeben. Es gibt neoliberale, (post-)fordistische, faschistisch-ethnopluralistische Vielfalten, die kriegerisch und diskriminierend funktionieren, oder aber Vielfalten, die auf inklusiven Solidargemeinschaften beruhen und ein schützendes, offenes Wir formulieren, dem immer etwas fehlt. Die feministische Bewegung im Iran, die sich nach dem gewaltsamen Tod der kurdischen Iranerin Jîna (Mahsā) Amīnī im September 2022 formierte, um dezentralisiert, führungslos wie klassenübergreifend die gesellschaftlichen Gefängniswände aus Angst, Strafe und Repression zu überwinden, hat es geschafft, ein solches inklusives Wir – eine Kohäsionskraft in der Vielfalt – her zustellen.
Der Begriff der Vielfalt hängt von der Differenzauffassung ab. Von welcher Differenz sprechen wir? Von Distinktionsgewinn, Überlegenheitsgefühl, ›rassischer‹ Differenz – oder von jenem Prozess der Differenzierung, der diese Differenzen attackiert, Identitätszuschreibungen durchstreicht und Binaritäten dekonstruiert, wie Michel Foucault, Jacques Derrida und Judith Butler aufgezeigt haben. Geht es um Identität als Stigma oder als Spielraum? Wir brauchen Prozesse der Differenzierung, um Vielfalt erleben zu können. Unsere Krakenkörper sind exquisite Kadaver: Austragungsorte widerstreitender Identitäten und Differenzierungsachsen.
Warum aber kommt Vielfalt – obwohl Bio-/Soziodiversität ein disziplinenübergreifendes Anliegen der Gegenwart ist – uns trotzdem abhanden? Warum rieselt sie uns durch die Finger wie die unaufhaltsam absterbenden Korallenriffe, die sich in steinerne Friedhöfe und dann irgendwann in paradiesischen Sand verwandelt haben werden? Warum erinnert Vielfalt an eine Auster, die wir nur dann einen Augenaufschlag lang lebend erleben können, wenn wir sie öffnen – und damit töten? Die Erfahrung von Vielfalt, im Sinne neuer Beziehungsweisen (Bini Adamczak) und transkultureller Kontaktzonen, bräuchte Zeit. Die haben wir kaum. Noch schwieriger wird es, wenn es darum geht, Vielfaltskonfigurationen auszudenken, die sich vom (gar nicht mehr so) neuen Geist des Kapitalismus (Boltanski/Chiapello) nicht kassieren lassen. Können wir uns eine Vielfalt jenseits von Wachstum, Konkurrenz, Kapitalisierung und akademischen Sammelbänden überhaupt vorstellen? Die entscheidende Frage ist: Geht es um eine Diversifizierung, die das Bestehende überwindet - oder letztendlich bewahrt?
Vom neuen Goldrausch ist nicht nur die Bergbauindustrie befallen, die Billionen von Manganknollen ins Visier genommen hat, um uns auch in Zukunft die Hightech-Beforschung der Vielfalt zu ermöglichen, während ebendiese Vielfalt in 5000 Metern Meerestiefe abgeerntet wird. Vom neuen Goldrausch ist auch unser Planet Akademia befallen, der sich von der Akkumulation posthumaner Perspektiven und indigener Wissensformen (tacit knowledge!) die Rettung der Vielfalt als Exzellenz verspricht – und noch dazu die Rettung vor dem eigenen schlechten Gewissen. Da ist er wieder, der Rettungsgedanke, der white savior complex, der Traum vom totalen, (neo-)kolonialen Archiv. Warum dreht sich Orpheus nach Eurydike um? Weil er sich für das ablösbare Bild und gegen ihren Hitzekörper entscheidet.
Nicht nur Ängste vor dem Anderen, auch idealisierende Sehnsüchte nach Vervollkommnung durch das (geheime) Wissen der Anderen können Gewalt produzieren, vor allem, wenn diese invasiven Fantasien enttäuscht und zu Recht mit Opazität quittiert werden. Der instrumentelle, exotisierende Wunsch, von ›indigenen Informant*innen‹ lernen zu können, hat eine weit zurückreichende Kolonialgeschichte. Ist die Weisheit der neo-exotisierten und neo-orientalisierten ‹anderen› (indigenen, posthumanen) Perspektiven der neue Rohstoff, den es zu extrahieren gilt, um abgestandenes Wissen zu erfrischen? Was machen wir mit der geschürften und in Desktop-Ordnern wieder versenkten Datenvielfalt? Was ist die Gegengabe?
Die entscheidende Frage insistiert immer noch: Können wir uns Vielfalt und Versammlungen - versammelte Vielfalten - jenseits von Logiken der Akkumulation, des Wachstums und der Monetarisierung überhaupt vorstellen? In Barbie (USA 2023, Greta Gerwig) werden alle Außenseiterbarbies, die in der Geschichte des Konzerns keine Chance bekommen haben, rehabilitiert. Diversifizierung wird hier zum Erhalt des Immergleichen. Was er einst als Ausschussware betrachtet hat, entdeckt der Konzern neu, als Quelle der Anreicherung und der Ausweitung der Warenzone. Eigenarten erscheinen für Mattel nur dann bewahrens- und kultivierenswert, wenn sie in sich keine Widersprüche versammeln, sondern sich für Merkmalsreduktion, d.h. Typenkonstruktion eignen. Die neue Vielfalt selon Mattel ist alles andere als inklusiv, sondern radikal exklusiv.
Versammlungen machen nicht nur sichtbar, sie machen auch unsichtbar. Sind die unsichtbaren den sichtbaren Vielfalten - wie auf einem Schachbrett - immer schon innewohnend, vorgerastert, als ungesehen vor(-her-)gesehen? Wie sähe eine Vielfalt aus, die es vermag, aus diesen Rastern auszubrechen - und dennoch Differenzierungen zuzulassen? »[...] das Unsichtbare ist nicht das Gegenteil des Sichtbaren: das Sichtbare selbst hat eine Gliederung aus Unsichtbarem, und das Unsichtbare ist das geheime Gegenstück zum Sichtbaren, es erscheint nur in ihm [...].«5
Undichte Gestalten
Ich möchte auf diese offenen Fragen mit der Dekonstruktion einer persischen Dichtung aus dem 12. Jahrhundert antworten: Farid-ad-Din ʻAttars hochallegorisches Epos Die Konferenz der Vögel oder Vogelgespräche (Mantiq al-tair), verfasst in Doppelversen, ist die Geschichte von hunderten von tausenden Vögeln, die sich unter der Führung eines Wiedehopfes aufmachen, um ihren König, den Phönix Simorgh zu suchen, dessen Nest sich der persischen Mythologie zufolge im Gebirge Kuh-e Qaf verbirgt. Am Ende des beschwerlichen Wegs, auf dem viele Vögel auf der Strecke bleiben, müssen die dreißig übriggebliebenen Vögel erkennen, dass der gesuchte König nichts anderes ist als die Reflexion ihrer eigenen Existenz. Denn si-morgh bedeutet: 'dreißig Vögel'. Der Simorgh wird häufig mit einem Adler, Falken oder Geier verglichen und als Mischwesen dargestellt, etwa als Komposit aus Fledermaus, Hund und Pfau oder als Vogel, der sich aus einer Vielheit von Vögeln – eben dreißig Vögeln – zusammensetzt. Das erinnert dann ein wenig an Arcimboldos Die Luft (1566) oder an das Frontispiz von Thomas Hobbes’ Leviathan (1651).
Office of investigation into deviated trajectories (2014) ist eine Installation von Narime Sadeg, die mir im Musée d’Art moderne de la Ville de Paris im Rahmen der Ausstellung Iran. Unedited History 1960–2014 begegnete. Sadegs Installation kommentiert und variiert Attars Erzählung und fragt nach jenen Vögeln, die ihr Ziel verfehlten oder dieses Ziel - das Aufgehen im großen Ganzen des Simorgh - gar nicht erst erreichen wollten. Während die dreißig erfolgreichen Vögel als konkrete, ausgestopfte Vögel auf einem dekagonalen, von der Decke abgehängten Plexiglas-Plateau liegen, als würden sie an einer Konferenz teilnehmen, sind im Hintergrund Stahlregale mit abgehängten, dicht hintereinander geschichteten, gleichsam magazinierten Plexiglasplatten zu sehen, auf denen sich abstrakte Vogelzeichnungen – meistens nur Umrisse – befinden. Ein Gegen-Archiv übersehener, verloren gegangener oder verloren geglaubter Ideale soll sich auftun, ein Archiv all jener Ab-Wege und angerissenen Flugbahnen, die uns auf alternative Geschichten der Gegenwart hinweisen: Es handelt sich um einen »Wartesaal der Geschichte«,6 würde Dipesh Chakrabarty sagen.
In Sadegs Installation verwandelt sich der Simorgh in ein undichtes, poröses wir, dem immer auch etwas fehlt. Das, was fehlt, ist keineswegs vor-gesehen, vor-gebahnt. Je nach Perspektive auf die Vergangenheitsschichten qua Plexiglas-Schichtungen, je nach Blickrichtung und Durchsicht zeigen sich der Betrachterin verschiedenste Überblendfiguren und (Vogel-)Umrisse, Verhältnisse und Überlagerungen - und somit alternative Geschichten der Gegenwart. Ich beschloss, in diesem Magazin ein Archiv all jener konkreten (und ganz und gar nicht symbolischen) Vögel zu sehen, die ich bislang überhört und übersehen hatte. Wohlan, womit fangen wir an? Mit P wie Pelikan? Oder mit jenen Vogelarten, die auf dem Klettergerüst neben der Schule in Hitchcocks berühmter Szene aus The Birds (USA 1963) keinen Platz mehr fanden?
Film ist die Kunst, (Vogel-)Perspektiven - ein »Sehen für«, »Sehen wie«, »Sehen durch«, »Sehen dass«, »Sehen mit«7 - derart zu vernetzen, dass jede fixierbare Erscheinungsform einer Versammlung verunmöglicht wird. Wenn sich die »Kino-Augen« aller Länder vereinigen, wie das bei Jean Rouch (frei nach Karl Marx und Dziga Vertov) heißt,8 dann sicherlich nicht, um sich auf eine abschließbare Gestalt der Vielfalt zu einigen. Die entscheidende Frage bleibt: Geht es um eine Diversifizierung, die das Bestehende bewahrt - oder überwindet? Not every difference makes a difference.
[Eine Vorstudie zu diesem Essay ist erschienen unter dem Titel „Vielfalt“ in: Zeitschrift für Medienwissenschaft, Jg. 16 (2024), Nr. 1, S. 116–119.]
- 1
Karen Duve, »Das Leiden der Anderen« (2010), unter: https://taz.de/!346353/ (zuletzt eingesehen am 30. September 2023)
- 2
Valentin Groebner, Retroland. Geschichtstourismus und die Sehnsucht nach dem Authentischen, Frankfurt/Main 2018, S. 142.
- 3
Matthias Wittmann. Ardor. Die Farbe der Differenz – Über Badel/Sarbachs 3-Kanalvideoinstallation, Zürich 2022, S. 25.
- 4
Stuart Hall, The Fateful Triangle. Race. Ethnicity, Nation, Cambridge/London 2017, S. 161.
- 5
Maurice Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, gefolgt von Arbeitsnotizen, München 1986, S. 275.
- 6
Dipesh Chakrabarty, Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference, Princeton 2000, S. 9.
- 7
Emmanuel Alloa, Partages de la perspective, Paris 2020, S. 261ff.
- 8
Jean Rouch, 'Die Kamera und der Mensch', in: Kinemathek, Nr. 56, Juni 1978, S. 2-22, hier S. 21.