Montagabend. Previewabend, ab ins Capitol (oder, je nach Programmlage, ins Palatin). In der Schlange sehe ich mir bekannte Gesichter, ich stelle mich dazu, man beginnt schon, über den bevorstehenden Film zu reden. Vielleicht ist es ein Film, auf den man sich schon seit Wochen oder auch Monaten freut, vielleicht ist es ein Film, von dem man vor dem Erscheinen des neuen Kinoprogrammes noch nie oder nur vereinzelt etwas gehört hatte. An der Kasse noch schnell das Ticket und ein Bier (Altenmünster mit Bügelverschluss) und dann in den Saal. Vor Filmbeginn noch die kurze Einführung des Fachschaftsrat Filmwissenschaft/Mediendramaturgie, die Lichter gehen aus, das Capitol & Palatin Logo erscheint, die Bierflaschen ploppen und der Film beginnt.
Ungefähr 2 Stunden später, der Film ist aus und wir verlassen den Saal und das Gebäude. Vor dem Kino bilden sich schon die ersten Grüppchen und wir beginnen, über den gerade gesehenen Film zu sprechen, Eindrücke, Theorien, Lob und Kritikpunkte werden ausgetauscht. Nach einer Weile beginnen sich diese Grüppchen aufzulösen, die einen gehen schon direkt nach Hause, die anderen verlagern ihre Gespräche und Diskussionen in eine der umliegenden Kneipen. Der Previewabend ist an seinem Ende angekommen.
Doch damit ist seit knapp neun Monaten Schluss. Denn da fand die letzte Monatspreview in den inzwischen geschlossenen Kinos Capitol & Palatin statt.1 Will man in Mainz seitdem ins Kino gehen und aktuelle Filme sehen, geht das entweder nur im CineStar-Multiplexkino, oder man muss auf die umliegenden Städte wie Wiesbaden oder Frankfurt ausweichen. Dort kann man dann zwar die gewünschten Filme, die sonst in den Mainzer Programmkinos zu sehen gewesen wären nachholen, aber ein gemeinschaftliches Event, wie es die Einrichtung der Preview in Mainz bot, konnte sich bisher nicht etablieren, auch nicht unter den Student*innen.
Dabei sind diese gemeinschaftlichen Filmerfahrungen so viel ergreifender als Netflix zu schauen, im Home-Cinema, auf dem Sofa in schlechter Qualität. Das erinnert mich an die Corona-Pandemie und all die Zeit, die ich in dieser Form verbringen und absitzen musste. Ich konnte es gar nicht abwarten wieder in einem Kinosaal mit Freunden, aber auch mit Wildfremden sitzen zu können. Denn Kinos, das sind nicht nur Räume, in denen Filme gesehen und erlebt werden. Kinos sind Räume, in denen wir zusammen Filme sehen und erleben! Das Publikum, bestehend aus einer Vielzahl an verschiedensten Individuen und Persönlichkeiten, verwandelt sich vor der Leinwand in eine „Community“, die zwar weiterhin heterogen und divers bleibt, aber sich durch eine gemeinsame Tätigkeit verbunden sieht, buchstäblich. Es wird gemeinsam geschaut. Und genau die Räume, die dieses gemeinsame Schauen ermöglichen, fallen nun weg. Mainz ist seit der Schließung von Capitol & Palatin die erste Landeshauptstadt Deutschlands ohne eigenes Programmkino. Doch sind gerade diese Orte für die Filmlandschaft so wichtig. Denn hier können Menschen Filme erleben, die abseits des Mainstreams entstanden sind. Denn hier können abseitige und untergegangene Filme ein Publikum finden. Denn hier werden Filme noch richtig präsentiert, mit Trailern und Postern, und nicht von einem Algorithmus versteckt, der am Ende nur den eigenen content der Streamingdienste an die Nutzer*innen pushen möchte. Womit wir auch schon bei dem angekommen sind, was das Kino angeblich ablösen soll: Streaming. Was versprochen wird, ist die ‚totale‘ Zugänglichkeit der letzten 100 Jahre Film- und Unterhaltungsgeschichte, die gleichsam im Sitzen in Besitz genommen werden kann, ganz bequem, vom eigenen Wohnzimmersofa aus, mit einer App zu einem niedrigen Monatsabopreis. So wurde es zu Beginn des Streaming-Zeitalters zumindest in Aussicht gestellt. Inzwischen sieht die Realität jedoch so aus, dass man als Kund*in für bis zu fünf verschiedene Seiten bezahlen muss, um einen einigermaßen guten Zugang zu einer umfassenden Bibliothek an alten und aktuellen Filmen zu haben. Doch das hier soll kein Text über die Qualitäten von Netflix und Co. sein, sondern über das Kino als Versammlungsort. Was Streaming hiermit zu tun hat, ist, dass viele potenzielle Zuschauer*innen lieber auf einen Kinobesuch verzichten, weil sie ja zu Hause ebenso einen Film sehen können, ohne noch mehr Geld ausgeben zu müssen.
Ich habe bisher viel darüber geschrieben, was schlecht für das Kino läuft. Von schließenden Lichtspielhäusern, von Streaming-Diensten, die Filme in ihren Untiefen begraben und Algorithmen, die nur das Interesse der Seiten und nicht das der Nutzer*innen im Sinne haben. Doch dass Kino und Film auf der großen Leinwand immer noch ein Publikum finden kann, hat ein Phänomen im letzten Sommer gezeigt: „Barbenheimer“. Ein durch Internet-Memes entstandenes Mash-Up aus den Filmen Barbie (USA/UK, 2023, Greta Gerwig) und Oppenheimer (USA/UK, 2023, Christopher Nolan), die beide am selben Tag im Juli 2023 weltweit in den Kinos erschienen (im Folgenden werde ich mich vor allem auf den Film Barbie beziehen). Trotz des grundverschiedenen Charakters der beiden Filme begannen viele Zuschauer*innen weltweit, diesen beiden Filmen zu einem Double-Feature zusammenzuspannen. Vor allem Barbie konnte (neben seiner berühmten Vorlage natürlich) durch das Tragen pinker Kleidung zu einem viralen, um sich greifenden Phänomen werden. „Barbenheimer“ wurde zu einem Event auf vielen Ebenen: Das Publikum entdeckte über diese Filme das Kino als Erfahrungsraum neu. Und davon profitierten auch die Kinokassen. Auch ich habe beide Filme im Kino gesehen (nicht als Double-Feature hintereinander) und möchte hier kurz von der Magie eines ausverkaufen Kinosaals sprechen, genauer gesagt von meinem Kinobesuch bei der Barbie-Preview im Capitol. Viele im bunt durchmischten Publikum waren - ganz im Sinne des Trend - pink gekleidet. Direkt zur Kinoöffnung war der Andrang so groß, dass sich eine derart lange Schlange auf der Mainzer Neubrunnenstraße bildetet, dass der Film wegen des Andrangs statt um 20:00 Uhr eine halbe Stunde später beginnen musste. Der Ablauf des Abends folgte sonst sehr genau dem, wie ich ihn zu Beginn dieses Textes beschrieben hatte. Allerdings muss festgehalten werden, dass schon vor Beginn des Filmes eine Energie im Saal zu spüren war, die sich von anderen Previews deutlich unterschied. Bevor der Film begann wurden bereits im Saal vor der Leinwand Bilder von den verschiedenen Outfits und Kostümen gemacht und man konnte die Vorfreude der Menschen wirklich in der Luft fühlen. Als sich der Saal gefüllt hatte und die Lichter langsam ausging, wurde es zwar etwas ruhiger und alle nahmen ihre Plätze ein, die Energie in der Luft blieb aber bestehen. Und dann begann der Film. Nur selten wurde ich so sehr von der Energie und Freude der anderen Zuschauer*innen mitgetragen wie bei diesem Film. Bei jedem der vielen Witze war der Saal am Explodieren und gleichzeitig fühlte man bei den emotionalen Momenten mit den Figuren mit und konnte um sich herum spüren, wie die Menschen ebenfalls mitgenommen wurden. Ich beschreibe dieses Kinoevent deshalb, weil ich den Film vor einigen Wochen noch einmal angesehen habe (zum ersten Mal seit der Preview im Capitol), dieses Mal zuhause, alleine, auf meiner Couch und musste feststellen, dass ich all die Menschen um mich herum vermisste - und mit ihnen die Energie. Ich sah plötzlich einen anderen Film. Der Witz, der Charme waren plötzlich nicht mehr so stark und auch die Emotionalität des Filmes hat mich nicht mehr so mitgenommen, wie an diesem Abend. Barbie kann daher als ein Film beschrieben werden, der nicht nur für eine große Leinwand gemacht wurde, sondern auch für ein Gemeinschaftserlebnis - vergleichbar den Mitternachtskino-Events der 1970er, als die Menschen vor der Leinwand mitzusprechen begannen, weil sie ihre Lieblingsfilme derart verinnerlicht hatten. Und das gilt für die meisten Filme, und dafür ist Streaming einfach nicht gemacht. Um diese Erfahrungen machen zu können brauchen wir weiterhin Orte, an denen wir als Zuschauer*innen zusammenkommen können, um Filme GEMEINSAM erleben könne, wir brauchen weiterhin Kinos.
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An dieser Stelle soll erwähnt werden, dass das Capitol am 23. August 2024 unter neuer Leitung wieder eröffnet wurde.