(When There's) Voice over Thoughts

Aus Chaos Ordnung machen oder wenn sich Gedanken versammeln lassen

Der Essay beschäftigt sich mit der Frage danach, ob und wie man immaterielle Dinge fassen kann und ob Film mit den Voice Over als Stilmittel als eine Sammlungsmethode verstanden werden kann.

Lisa Beikirch
Ein junger Mann blickt nachdenklich nach rechts oben
J.D. verfällt in einen seiner Tagträume in SCRUBS (USA 2001 – 2010, NBC)

Do you ever feel like a plastic bag drifting through the wind wanting to start again? … 
...singt es Vielen im Kopf, wenn er oder sie eine Tüte beziehungsweise ein anderes plastikähnliches Objekt an sich vorbeifliegen sieht. Wer diesen Satz auch nicht gesungen, sondern in einer normalen Stimme ausgesprochen in den eigenen Ohren hören kann, wird (von mir) nicht ernst genommen. Denn das Lied „Firework“ von Katy Perry hat (m)eine Generation mit diesen Lyrics geprägt, die sich für immer in den Frontallappen unserer Gehirne eingefressen haben. (Gehirnchirurg*innen würden dieser These sicherlich zustimmen.) 

Hin und wieder wäre es allerdings erleichternd, wenn Ärzt*innen den ein oder anderen Gedanken aus den Nervenzellen herausholen könnten. Einen kleinen Schnitt hier, ein kleiner Schnitt da und voilà: Die heimtückische Erinnerung einer Peinlichkeit oder Unannehmlichkeit hat das Weite gesucht, herausgeholt wie eine Made aus einem Apfel. (Und ward nimmer wieder gesehen.) 

Wie funktionieren Gedanken eigentlich? Es sind elektrische Signale, Trampelpfade im Gehirn, Synapsen, die durch die richtigen Botenstoffe aktiviert werden, oder so ähnlich, mein Bio-Unterricht ist nun etwas länger her. René Descartes stelle 1641 bereits fest: „cogito ergo sum“; „Ich denke also bin ich“. (Haben Sie sich einmal Gedanken gemacht, wie Sie denken oder sich mit Freund*innen darüber unterhalten, wie sie denken?) 

Denken, Denken, Denken. Nachdenken, Überdenken, weiterdenken, über etwas hinausdenken, etwas zerdenken. Bestimmen Gedanken den Inhalt des Gehirns? Gedanken, die hin und her springen, her und hin. Sie sind dreist dynamisch, können aber auch stur statisch sein und sich festbohren. Manche sind klar wie Kloßbrühe, andere dagegen schwammig und dringen wie durch Nebel an die Oberfläche unseres Bewusstseins. 

Jemand der mir sehr nahe steht sagte mir einmal, man könne sich selbst aussuchen, was man denkt. Dem möchte ich aus tiefsten Herzen widersprechen, denn dieser Satz ist der dümmste, schlechteste, ... unreflektierteste (?), den man zu einem Menschen sagen kann, der auch nur im geringsten Maße mit psychischen Beeinträchtigungen zu kämpfen hat. (Oder noch nicht gelernt hat, nachzudenken und/oder den eigenen Verstand einmal kreativen Freilauf zu geben).

In meinem „Ach-du-bist-doch-noch-so-jung,-du-hast-noch-alle-Entscheidungen-offen!“-Leben gab es nur selten Momente, in denen ich mir zu hundert Prozent ausgesucht habe, was ich denke. (Beziehungsweise, nein. Sich auszusuchen, was man denkt ist natürlich etwas anderes als die komplette Kontrolle über die eigenen Gedanken zu haben.)  Gedanken kann man eine Richtung geben oder sie schlagen auf eigene Faust ihren Weg ein. Sie können sich entwickeln und heranreifen. Wenn sie sich entschließen zu bleiben, kann auf sie zurückgegriffen werden. Es schleichen sich auch Bilder ein, Sätze, Gefühle, die eigentlich keinen Platz im Selbst haben sollten. Egal ob gut oder schlecht, frei gewählt und ausgesucht oder zwanghaft eingedrungene Gedanken. Sie sammeln sich an und drücken ohne Ventil an die Grenzen der Schädeldecke. Manchmal sind sie LAUT, manchmal sind sie leise. Alles da abrufbar, veränderbar, wandelbar, oder einfach da. Hin und her, her und hin. Oder einfach da. Ohne Zutun des bewussten Ichs. 

Sind Gedanken auditiv, visuell, haptisch? – Ja. „Stellen Sie sich einen Apfel vor. Können Sie ihn vor ihrem inneren Auge sehen? Können Sie ihn bewegen oder anders aussehen lassen? Können Sie ihn schmecken, oder ihn hören, wenn Sie in ihn hineinbeißen?“ – Ja. Doch anscheinend empfindet Person X das anders. Das muss auch ganz schön sein, einfach Stille im Kopf, im schlimmsten Fall ein bisschen Grau gemischt ins Schwarz.

Es gibt da eine schöne Kindergeschichte von Frederick, der Maus, die für den Winter Farben und Sonnenstrahlen und Wörter sammelt. Wird es Dir nicht ab und an zu viel, liebe Maus? Oder schaffst Du es, zu sortieren und auszumisten und alles getrennt aufzubewahren, ohne dass sich alles durchdringt und beginnt, keine klaren Kanten mehr zu behalten?  Gesammelte Gedanken und Erinnerungen drohen alles zu überschwemmen. Wie ein Bleistiftgekritzel oder eine Dia-Show, deren Bilder ineinander schmelzen und zu schnell vor den offenen Augen ablaufen.

Aber das Beschriebene, diese Gedankenerfahrungen, sind nur ein (Sch)Einblick in das Innere eines Individuums (mich) und besitzt nicht den Wert von Allgemeingültigkeit. Die Möglichkeit, in andere Menschen, Personen, personifizierten humanoiden Protagonist*innen hineinzuschauen, haben wir zum Zeitpunkt dieses Essays noch nicht kennengelernt, weder den Blick hinein ins Selbst oder in das Selbst Anderer. Oder vielleicht doch? Gibt es einen Weg? Manche Medien haben das Talent – nennen wir es Medienspezifität – die angesammelten Gedanken fassbar zu machen. Sie aufzuzeigen und zu ordnen und so sichtbar und hörbar zu machen. (Gedanken anderen verständlich machen, welch ein Fest.)

Schon seit Anbeginn des Medium Film gibt es als mediales Stilmittel das Voice Over, wobei die innere Gedankenstimme (insofern vorhanden) zu Wort kommt und zumindest den Zuschauenden und Zuhörenden verständlich macht, über was gerade nachgedacht wird. So wird Unfassbares - die Ansammlung immaterielle Gedanken, die flüchtig, aber dennoch da sind - hörbar gemacht und somit nähergebracht. (Klare ausformulierte Sätze!) In Büchern und anderen schriftbasierten Medien wirkt es ganz logisch, besonders wenn aus der Ich-Perspektive erzählt wird. Doch vor der Leinwand oder vor dem Bildschirm kann es auch schnell merkwürdig wirken, die Gedanken Anderer einfach so übergestülpt zu bekommen. Das Überblenden macht eben aber auch klarer, was wir verstehen sollen. (Wie schön, sich sauber auszudrücken, in Sprache und so wenig abstrakt.)

In Serien wird zu Beginn vieler Folgen gerne das Voice Over eingesetzt. Meistens ist es auch nicht bekannt, oder soll (noch) nicht bekannt sein, wer da „spricht“. Eine innerdiegetische Figur spricht die eigenen Gedanken, zum Beispiel in einem Wirrwarr, Strom, Stream of Conciousness losgelöst von einer Logik unterworfener geordneten Gestalt, oder zitiert mehr oder weniger relevante Zitate. Wenn mensch die Synchronstimme erkennen kann (was doch gar nicht so schwer ist), ist das hörbare Innenleben direkt an eine Figur gebunden und Stimme, Gesicht und Gedanke sind untrennbar miteinander verknüpft. (Vielleicht geht es ihnen ebenfalls so, dass sie die Masse an gesammelten Eindrücken nicht loswerden können, dass es keine andere Möglichkeit gibt… nein. Es sind schlussendlich doch fiktive Charaktere, die bestenfalls auf Menschen beruhen, die unsere wahrgenommene gelebte Realität bevölkern.) 

Vielleicht kamen Sie bereits in den Genuss von American Beauty (USA, 1999, Sam Mendes) oder Dexter (USA 2006 – 2013, Showtime). Denn hier lauscht man den Gedankengängen von Individuen, die ein dunkles Inneres haben, denen man vermutlich nicht so gerne im Alltag begegnen möchte. (Natürlich gibt es aber auch Beispiele von positiv konnotierten Protagonist*innen). Das Voice Over lenkt das Geschehen und zeigt die andere Seite, die dunkle Seite. „Den dunklen Begleiter“, um es mit Dexter Morgans Worten zu sagen, bzw. mit seinen Gedanken, die innerdiegetisch für seine Begleiter unausgesprochen bleiben und die er nur uns anvertraut. (Gruselig, was alles in unseren Mitmenschen stecken kann, ohne, dass wir je etwas davon erfahren.)

Zu einer meiner Lieblinge zählt die Comedy Serie Scrubs (USA 2001 – 2010, NBC), die wie viele andere Serien der Anfang 2000er nicht optimal gealtert ist, doch trotzdem ihren Charme nicht einbüßen musste. Möglicherweise gefällt sie mir so gut, da sich die Macher*innen dazu entschieden haben, die Gedankenwelt von Protagonisten J. D. nicht nur mit seinem Voice Over zu erzählen. Nein, denn wir erhalten wirkliche Einblicke in die mentale Innenwelt. Wie interessant, dass Person X die Serie ebenso mochte wie ich, doch nie hinterfragt zu haben scheint, warum es diese Szenen gibt. Für mich spielt es sich gerne auch so ab, lediglich weniger real. (Trotzdem Danke für die Erziehung und das nur seltene Nicht-Verstehen meiner Gedanken.) J. D.s Eingebungen spielen sich in elaborierten Over-the-Top-Szenerien ab. Seine Gedanken werden visualisiert und für uns wirklich sichtbar! (So greifbar.) 

Die Off Voice wird zu einem Off Thought, die Stimme strukturiert die Gedanken! Aus gesammeltem Chaos wird strukturierte Verständlichkeit und werden zu einem Over Thought. (Welch ein Gedanke!) Der Film schafft es den Gedanken der Figuren eine Gestalt zu geben und das auf verschiedenste Weise. Mit der Voice Over Thoughts überblendet er das Chaos im Inneren und macht daraus eine nach außen dringende Ordnung.

Jetzt ist es aber wieder passiert und alles Einzelne beginnt ineinander zu verschwimmen, sogar auf dem Papier. Einmal wieder den Kopf frei bekommen und tief durchatmen, aufblicken und Sehnsucht verspüren, doch lieber noch mal von vorne zu beginnen. Das dies hier vielleicht doch (noch) nicht geeignet ist. Struktur aus Chaos zu erzeugen ist nicht so leicht, wie man meinen sollte. Nichtsdestotrotz ist es befreiend. Die Puzzleteile liegen bereit und warten darauf, neu betrachtet zu werden. (Ergibt sich ein Bild?) Do you ever feel like a plastic bag, drifting through the wind, wanting to start again? 
 

Eine Plastiktüte wird vom Wind durch eine leere Straße geweht
Eine Plastiktüte fliegt durch den Wind in AMERICAN BEAUTY (USA, 1999, Sam Mendes)