Der Pragmatiker und das Filmbild

Wie viele Filmgewerke braucht es, um eine Glühbirne zu wechseln einen filmischen Shot zu kreieren?

Niklas Rörig
Eine Gruppe Menschen steht mit Filmequipment auf einer Straße.
Setfoto, ©Yasmin Abbas

Der Pragmatiker schreit Eins! Und ja, wenn wir ehrlich sind, braucht es doch eigentlich nur eine Person an der Kamera, um ein filmisches Bild zu erzeugen. Auf Aufnahme drücken und sie wieder beenden. So einfach, wie eine Glühbirne zu wechseln; rausdrehen und die neue reinschrauben. Aber Moment! Steht da nicht Filmgewerke? Allein das Kameradepartement besteht ja schon aus mehr Menschen als dem Director of Photography, die diesem scheinbar irgendwie assistieren. Und wenn wir hier schon einhaken: Wer hat diesen Personen überhaupt die Kamera besorgt? Und wer die Location festgelegt? Und wer sagt ihnen, was sie filmen sollen? Wer sagt ihnen, wie sie es filmen sollen? Und wer sagt ihnen, in welchem Licht und zu welcher Tageszeit? Und wer wendet sich mit einem NEIN, hier dürfen Sie jetzt kurz nicht durch! an die Passanten, damit auch nur das gefilmt wird, was da wirklich gefilmt werden soll? Und wer hat diesen ganzen Personen eigentlich beigebracht, wie das alles geht, die da oben auf dem Setfoto zu sehen sind? Und wer hat dieses Setfoto eigentlich gemacht? Und warum?

STOP! 

Der Pragmatiker rudert zurück und denkt: So einfach ist es wohl doch nicht. Versuchen wir, einen Schritt zurückzugehen und zu verstehen, was all diese Menschen hier versammelt hat. 
Egal, wie viele Gewerke oder Personen, alle haben entweder als Autodidakten oder durch formale Ausbildungen erlernt, welche Aspekte in der Filmproduktion relevant bzw. tradiert sind und arbeiten entweder konform nach diesen Standards oder konterkarieren sie. Michael Polanyi würde hier von Implizitem Wissen sprechen, 1Michel Foucault die Machtstrukturen hinterfragen, die ermöglichen, dass einzelne Personen sich solches Wissen überhaupt aneignen können.2  Dem Filmbild gehen also Wissenstransfers sowie einige gesellschaftliche Strukturen voran, die mit der kreativen Arbeit erstmal noch gar nichts zu tun haben. Natürlich kann auch eine Person all diese kreativen Aufgaben allein erlernen und später übernehmen, frei à la Rebel Without A Crew.3  Doch im Regelfall besteht ein Filmteam aus mehreren Personen, die sich zunächst einmal zusammenfinden müssen, um später kollaborativ ihre Kompetenzen zu verbinden, sodass ein Film(-bild) entstehen kann. 

Auf der Suche nach der Antwort auf unsere Frage macht es Sinn, zu prüfen, für welche Gewerke es im Speziellen Ausbildungswege bei Bildungsinstitutionen wie Filmhochschulen gibt. Es finden sich Drehbuch, Regie, Produktion, Schauspiel, Casting, Maskenbild, Kostüm, Szenenbild, Kamera, Licht, Ton, Schnitt, Spezialeffekte und Musik. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn, elf, zwölf, dreizehn, vierzehn. Ist das unsere Antwort? Vierzehn? Nachdem die Antwort Eins! des Pragmatikers sich zuvor als so schnell widerlegbar bewiesen hat, bin ich vorsichtig geworden. Das filmische Bild ist, so scheint mir, nicht nur die Summe aller möglichen Gewerke. Es ist auch der Effekt von jenen Teilen, die fehlen oder weggelassen wurden. Ich stelle mir folglich die Frage, ob es Beispiele für Filme gibt, in denen einzelne Gewerke nicht Teil des Entstehungsprozess waren. 

ZURECHT!

Code Innocu (FR/DE/RO, 2000) von Michael Haneke nutzt keine Musik. In Steamboat Bill, Jr. (USA, 1928, Charles Reisner) kracht ein Haus über Buster Keatons Kopf zusammen, doch der Film wurde vor der Ära von Spezialeffekten gedreht. Macbeth (HU, 1982) von Béla Tarr kam als erster Langfilm ohne Schnitte aus. Die Stummfilm-Ära ging dem Tonfilm voran. The Tree of Life (USA, 2011) von Terrence Malick arbeitet ausschließlich mit natürlichem Licht. Filme wie Koyaanisqatsi (USA, 1982) von Godfrey Reggio zeigen, dass es auch ohne Schauspiel, Casting, Maskenbild und Kostüm geht. Climax (FR, 2018) hatte laut Gaspar Noé nur eine Outline und kein Drehbuch. Das No Wave Cinema setzte auf Unmittelbarkeit und auf guerilla filmmaking, wodurch es nicht wirklich zu einem Produktionsprozess kommen konnte. Lars von Trier versuchte mit dem Experiment der Automatovision sogar, die Person hinter der Kamera durch einen Computer zu ersetzen. Es bleiben jedoch stets die Gewerke Regie und Kamera. Eine Instanz, die festlegt, dass oder was gefilmt wird, und eine Instanz, die es ausführt und maßgeblich gestaltet. Ist das die finale Antwort? Dass es mindestens diese beiden Gewerke benötigt, um einen filmischen Shot zu generieren?  

An dieser Stelle wird die Frage bei genauerem Überlegen nochmals komplexer, denn wer legt denn überhaupt fest, wann ein Stück Bewegtbild als filmischer Shot zu klassifizieren ist? Besonders im digitalen Zeitalter wird die Diskrepanz zwischen Filmkunst und sogenanntem Videocontent sehr stark diskutiert. Doch worin liegt der Unterschied bei diesen beiden Formen von Bewegtbild? Ist das eine das Handwerk und das andere nur die amateurhafte Imitation? Ist das eine der kontemplativen Internalisierung vorbestimmt und das andere automatisch eine oberflächliche Bilderflut, die über die Zuschauenden hereinbricht? Mit welchen Argumenten lässt sich festlegen, dass auch ein Amateurfilm ein Filmprodukt ist, aber eine High-End-Videoproduktion nicht das Prädikat „filmisch“ erhalten wird? Warum gelten Trashfilme und Mainstream-Actionfilme als filmisch, auch wenn sie wenig mit ‘wahrer Filmkunst’ zu tun haben? Müssen Filme von Produktionsfirmen gemacht sein und von Distributionsfirmen vertrieben werden, um wirklich als Filme wahrgenommen zu werden oder reicht es, wenn das Endprodukt nur den Eltern der Filmschaffenden gezeigt wurde?

Sean Baker bewies mit seinen erfolgreichen Produktionen immer wieder, dass man auch mit einem Smartphone Filme drehen kann. Es liegt also nicht an der Qualität der Kamera, mit der gedreht wird. Ein Kriterium, das all diese Fragen einschließt, scheint zu sein, dass mit dem filmischen Shot eine Geschichte erzählt wird. Das Stück Bewegtbild muss also eine narrative Qualität besitzen. So lässt sich erklären, dass es nicht auf den objektiven Kunstgehalt eines Filmbildes ankommt. Doch wie man in vielen zeitgenössischen Werbungen sieht, können auch solche Videos Geschichten erzählen. Nicht umsonst gibt es den Begriff WerbeFILM. Unser gesellschaftliches Verständnis von Film ist jedoch von dem Faktor geprägt, dass eine Form von Weltverständnis oder -unverständnis porträtiert wird, welches sinnstiftend oder sinnentleerend sein kann. Dem filmischen Bild ist also eine metaphysische Perspektive inhärent, die Rückschlüsse auf Werte und Emotionen der Filmschaffenden erlaubt. Das filmische Bild trägt zutiefst menschliche Qualitäten in sich, ohne, dass es diese Perspektiven über Artikulationsstrukturen wie Körper, Sprache o. ä. konkret äußern müsste. 

In exakt dieser kollaborativen Kollision von Perspektiven entsteht etwas, das größer ist als all diese einzelnen Standpunkte oder die Summe ihrer Teile. Das filmische Bild schafft einen Ausdruck dessen, was man im direkten Modus als Austausch oder Kommunikation zwischen Menschen bezeichnen würde. Es ist Produkt und Dokument einer Realität an Relationen. Als Stellvertreter für das größer gedachte Werk verbindet es netzwerkartig die Film-Schaffenden und die Film-Sehenden in einem überzeitlichen Prozess, in dem Intention, Bedeutung und Interpretation versucht werden, in der Petrischale zu identifizieren. 

Viele Überlegungen über die Kreation bis zur Definition eines filmischen Bildes haben auf eine Metaebene der Betrachtung geführt, von der wir nur dann wieder zurück zum Sujet der Ausgangsfrage kommen, wenn wir einen Sprung zurück ins kühle Ungewisse machen. Mit Gewissheit lässt sich nämlich nicht formulieren, wie viele Gewerke letztendlich notwendig sind, um ein filmisches Bild zu kreieren. Eine Antwort auf die Schnelle wäre: Definitiv mehr als eins, aber jenseits dessen sind zwischen zwei und vierzehn alle Kombinationen denkbar. 

Der Pragmatiker sträubt sich gegen diese verkopft theoretische Aussage und möchte sich in die situative Gegebenheit flüchten, dass es nun mal so viele Gewerke braucht, wie der von den Filmschaffenden angestrebte Aussagegehalt des jeweiligen filmischen Bilds verlangt. Der Pragmatiker möchte ein Plädoyer für die Praxis halten und sich gegen das Finden der einen Wahrheit aussprechen. Er erinnert sich an ein Werk mit dem Titel Die Einstellung ist die Einstellung.4  Der Pragmatiker schreit: Ist doch egal!
 

  • 1

    Michal Polanyi (1966): Implizites Wissen.

  • 2

    Michel Foucault (2005): Subjekt und Macht.

  • 3

    Robert Rodriguez (1995): Rebel without a Crew.

  • 4

    Gertrud Koch (1992): Die Einstellung ist die Einstellung.