Wie viele Filme sieht ein Mensch im Laufe des Lebens? 500? 1000? 10000? Eine dumme Frage, sicherlich. Kommt es doch auf unterschiedliche Faktoren an. Herkunft, Gehalt, Geburtsjahr, und vieles mehr, scheinbar ganz natürlich.
Also gehe ich anderes heran: Wie viele Filme habe ich bisher gesehen? Nun, diese Frage scheitert wohl weniger an äußeren Umständen als an mir selbst. Niemals könnte ich alle Filme erinnern, die meine Netzhaut und meinen Frontallappen bestrahlt haben.
Aber heißt das, sie waren vergebens? Sind an mir vorbeigezogen wie die zahllosen Gesichter fremder Menschen? Lag ihr einziger Nutzen in der Unterhaltung? Oder haben sie mich geprägt, wie so vieles andere in meinem Leben?
Ich stehe vor meiner privaten Sammlung an Filmen, in Form von DVDs und Blu-Rays. Zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Textes: 599 Filme und 86 Serien-Boxen.
Jeden davon habe ich gesehen und darüber hinaus noch viele andere im Kino, im Fernsehen, bei Freunden, in der Schule, im Internet. Hinzu kommen Filme die ich als Kind gesehen habe, als diese Sammlung noch gar nicht zu existieren begann. Zugegebenermaßen wohl deutlich weniger, denn damals war man noch zufrieden, die gleichen Filme Dutzende Male am Stück zu schauen.
Auch handelte es sich zunächst noch um VHS-Kassetten (um mich einmal selbst zu datieren). Solche finden sich heute nicht mehr im Regal. Was mit diesen Kassetten passiert ist? Wahrscheinlich haben meine Eltern sie weggeworfen, bei einem der Umzüge. Für nicht mehr gut genug befunden. Wie unbrauchbare Scherbenreste bei einer Ausgrabung. Die Moderne verdrängte meine Vergangenheit, meine prägsamen Erinnerungen, aus dem Regal. Aussortiert und vergessen. Ich habe sie nicht vergessen. Heute sind sie Teil meiner eigenen Sammlung, als DVDs und Blu-Rays. Aus Nostalgie wurden sie – und ich - in die Moderne katapultiert. Zumindest solche Filme aus der Kindheit, an die ich mich erinnerte. Solche, die keinen Eindruck hinterließen, finden sich auch heute nicht in der Reihe.
Ich muss zehn oder elf gewesen sein, als ich meine erste DVD selbst kaufte; den Grundstein für diese Sammlung legte. Daraus wurden mehr und mehr. Aus Mangel an Streaming-Anbietern und Kenntnis des Internets musste jeder Film, den ich sehen wollte, zunächst ja gekauft werden. Mit Listen in der Hand lief ich durch die Regale im Elektrofachhandel und flippte durch die Stapel an DVDs. Das Taschengeld floss umgehend in den Media Markt, so war das damals.
Ich stand vor riesigen Sammlungen an Filmen, ganze Wände im Markt gefüllt mit ihnen. Sie waren wohl eher aus kommerziellen Gründen zusammengestellt worden. Aus diesen pickte ich mir heraus, was ich wollte und baute eine eigene Wand, eine eigene Sammlung, die aus Interesse zusammengestellt war. Kategorien aus Regiesseur:innen, Darsteller:innen galt es auszuweiten, das Wissen zu erhöhen. Vielleicht hatte mich auch ein Film durch seinen Trailer überzeugt oder war mir empfohlen worden.
Was sagt es über mich aus, dass die erste DVD die ich mir selber gekauft habe National Treasure (Das Vermächtnis der Tempelritter, US 2004, Regie: Jon Turteltaub) mit Nicholas Cage war? Mit Cage in den Schuhen von Indiana Jones und Robert Langdon auf der Suche nach verschollenen Schätzen und versteckten Spuren. Ist meine Filmsammlung eine Dokumentation meines Filmgeschmacks? Oder ist vielmehr der Geschmack ein Produkt eben jenes Sammelns gewesen? Ein wechselseitiges Verhältnis? Ein dynamisches Wachstum?
Wäre ich heute ein anderer Mensch, hätte ich diesen Film niemals gesehen? Dessen bin ich mir sicher.
So viel habe ich durch die Filme gelernt, die ich über die Jahre geschaut habe. Ich war jung genug, als ich startete, um zu behaupten, dass sie ein Teil meiner Erziehung übernommen haben. Oder führt das zu weit? Doch sicherlich wüsste ich heute bei weitem nicht so viel über die amerikanische Geschichte und Gesellschaft, hätte nicht eine Vielzahl meiner frühen Filmerfahrungen in diesem Setting stattgefunden. Coming-of-Age-Filme lehrten mich die Systeme der High School und Interaktionsformen amerikanischer Jugendlicher. Krimis legten mir Rechtssysteme und Polizeiarbeit nahe. Zumindest in den jeweiligen Formen, die das Kino für darstellenswert empfand.
Aber auch darüber hinaus gibt es sicherlich viel, dass sie mir mitgeben haben. Allgemeinbildung, dies und das, kleine Umstände und wichtige Personen. Social cues und neue Wege auf die Welt zu blicken, buchstäblich und im übertragenen Sinne.
Eine Sprache hat es mich auch gelehrt. Hätte ich nicht eine Liebe zum englischsprachigen Film entwickelt und den Wunsch entwickelt, die Darsteller:innen auch mit ihrer natürlichen Stimme zu hören, könnte ich mich wohl nicht ansatzweise so gut und sicher im (seien wir ehrlich, US-amerikanischen) Englisch bewegen. Denn darüber hinaus fällt mir das Erlernen jeder Sprache schwer, aber hunderte Stunden des reinen Konsums englischsprachiger Filme haben eben jene in mein Langzeitgedächtnis hinein gehämmert.
Und schließlich ist da noch mein weiterer Lebensverlauf. Hätte ich nicht die richtigen Filme zur richtigen Zeit geschaut und ein Interesse an dem gesamten Medium entwickelt, dann wäre ich nicht, wo ich heute bin. Gerade die Masse an Filmen hat eine tiefe Verbundenheit mit dieser künstlerischen Form geschaffen. Ich hätte nicht, nach langem hin und her, schlussendlich Filmwissenschaften und nun Mediendramaturgie studiert. Ich säße nicht hier und würde diesen Essay schreiben. Ich lebte nicht in Mainz, hätte andere Freund:innen, Hobbies, Gedanken. So wie die kleinste Entscheidung den Verlauf der Geschichte ändert, so kann es auch die geeignete Kombination von Kunst für ein Leben tun.
Welche Filme, Szenen, Momente ausschlaggebend waren, das ist nun unmöglich nachzuvollziehen. Filmbilder überlagen sich, werden zu Spuren, die sich gegenseitig überschreiben, sodass ich in den Schichten nurmehr wühlen kann wie Nicholas Cage auf der Suche nach den Schätzen der Vergangenheit.
Das Suchen wird leichter durch die Ordnung der Sammlung im Regal. Fremde Augen werden darauf blicken und nur ein ungeordnetes Wirrwarr wahrnehmen. Aber wehe, du nimmst eine DVD heraus und stellst sie an eine falsche Stelle zurück, dann werde ich mich sicherlich bemerkbar machen.
Ordnungen finden hier nach Regiesseur:innen, Darsteller:innen, Genre etc. statt. Wo welche Kategorie beginnt und aufhört, das sehe oft nur ich.
Und auch jene, die in keine Kategorie gehören und einst an einen gerade freien Platz gestellt wurden, haben heute diesen Platz für immer sicher, dann in meinem Kopf sind sie Teil einer festen Ordnung, allein durch ihre lange anhaltende Präsenz. Ich weiß wo jede DVD steht, auch wenn ihre Nachbarn nichts mit ihr zu tun haben. Reine Intuition führt mich zu ihnen, wenn ich sie suche. Kategorien kommen und gehen und verschieben sich. Immer wieder kommt es zu Fluktuationen - wenn sich Filme ansammeln und zusammen genommen neue, unvorhergesehene Kategorien bilden. Oder im Gegenteil: Neben Schauspieler:innen wie Heath Ledger und Emma Stone fand sich hier mal ein Abschnitt von Filmen mit Kevin Spacey. Doch Offenbarungen über dessen Charakter machten die Kategorie eher zu einem Schandfleck in der Wand aus Erinnerungen und Eindrücken.Die Kategorie wurde somit aufgelöst, die DVDs an andere Stellen verteilt, neu kategorisiert, weil ich ihre Kategorie nicht mehr sehen und aufrechterhalten wollte. So spiegelt das Regal auch meine eigenen Interessen, Vorlieben und Emotionen wider.
Die Sammlung im Schrank wird zu einer statischen Repräsentation der Sammlung in meinem Kopf. Selbstverständlich nicht vollständig, denn wie bereits erwähnt, lassen sich nicht alle von mir gesichtete Filme hier finden. Auch ist es kein direktes Abbild: In meinem Kopf herrscht eine andere Ordnung, eine andere Überlappung von Eindrücken und Erinnerungen. Aber die Regalwand ist eine Repräsentation, auf die ich und andere blicken können, um ein ungefähres Gefühl zu bekommen. Ihre Zusammenstellung so wie sie ist, drückt alleine schon etwas aus. „Das Element existiert nicht vor dem Ganzen, es ist weder gleichzeitig noch älter, es sind nicht die Elemente, die das Ganze bestimmen, sondern das Ganze bestimmt die Elemente: die Kenntnis des Ganzen und seiner Gesetze, die Gesamheit und ihrer Struktur könnte nicht aus der gesonderten Kenntnis der sie zusammensetzenden Teile abgeleitet werden.“1 Die Filme beziehunsweise DVDs drücken für sich etwas anderes aus, als wenn sie nun hier in meinem Regal stehen. Sie schaffen gemeinsam etwas Neues, etwas das eine Persönlichkeit ausdrückt. Jedoch wohl nicht mehr lange. Denn selbst diese DVDs werden kaum noch benutzt, sondern stauben im Regal regelmäßig vor sich hin. Am Ende des Tages ist es schließlich viel einfacher, den Film mit zwei Klicks in einem der zahlreichen Streaminganbieter zu finden. Selten wird da noch eine DVD in den Laptop oder die PlayStation (selbst ein reiner DVD- oder BluRay-Player lässt sich ja missen) gelegt. Die Sammlung wächst also nur noch in meinem Kopf. Das ist gut für das Regal, jedoch schlecht für die Spurensuche. Die technologische Moderne behindert meine Nostalgie.
Die Wand aus DVDs in meinem Zimmer, wofür ist sie dann noch da? Für die Filme, die nicht streambar sind? Natürlich. Auch wenn die Zahl kleiner wird. Und der ein oder andere Film dann doch eher ausgehliehen wird. Selber kaufen und in die Sammlung integrieren wird zur Seltenheit.2
Nur noch ein Dekoelement, dass Gäste bestaunen können, wenn sie das erste Mal vorbeikommen. Und ja, sicherlich, es ist ein sehr schönes Dekoelement. Auch ein sehr teures Dekoelement. (Meine Güte, da kommt einiges zusammen.) Aber immerhin ein Dekoelement, dass etwas über mich aussagt. Dort steht eine Erinnerungslandschaft, ein Teil meiner Persönlichkeit, meiner Bildung, meiner Erfahrungen. (Die Kosten eines Gebrauchtwagens).
Oft genutzt, mit Liebe gepflegt und jede Schramme hat eine Geschichte. Nicht mehr die Spitze der Technologie und doch für immer nützlich. Andere blicken mit Sorge darauf, ich mit Nostalgie.
Mein Gebrauchtwagen.